Keuschheit. Was bedeutet das? Ist dies ein Relikt längst vergangener Zeiten oder heute noch aktuell? Um erahnen zu können, was Keuschheit überhaupt ist, wollte ich wissen, was Ehe eigentlich bedeutet. Hierzu fragte ich die diplomierte Familienhelferin Regula Lehmann.

Von Benjamin Zürcher

Für sie hat die Ehe ein hoher Stellenwert. Selbst ist sie nicht nur Mutter, sondern schon seit über 30 Jahren verheiratet. Es gäbe eine sehr persönliche, individuelle Seite der Ehe, wie sie mir schilderte, aber auch eine gesellschaftliche Ebene. Die Ehe sei die Basis einer Familie, und damit auch die Basis einer Gesellschaft. Familie heisse, Leben weiterzugeben. Gemeinsame Kinder würden die Ehe lebenslang machen, denn die Ehe der Eltern lebt in den Kindern fort.

Lehmann definiert die Ehe als Gemeinschaft von zwei verschiedengeschlechtlichen Menschen; die „Ehe für alle“, die 2021 vom Schweizer Stimmvolk angenommen wurde, lehnt sie deshalb ab. Diese sei nur ein Zwischenstatus zur allgemeinen Abschaffung der Ehe, wie sie mir erklärte. Apropros Ehe für alle: Nach der 68er-Bewegung gefragt, antwortet Lehmann, dass diese auch die christlichen Wertmassstäbe verändert haben. Durch Gewöhnung und Beeinflussung habe sich ein Teil der Christenheit immer mehr von den biblischen Leitplanken für die Sexualität entfernt. Die Zeiten wurden auch für Eltern schwieriger: Die Schamlosigkeit unserer Gesellschaft und die sogenannte „Sexualpädagogik der Vielfalt“ seien neue Herausforderungen für Eltern im Umgang mit ihren Kindern.

Hinzu komme mit dem digitalen Zeitalter auch die Internetpornografie. Lehmann gibt Eltern dafür den Rat, ihre Kinder nicht einfach unbeaufsichtigt im Internet surfen zu lassen. Das Kind sollte alterssensibel begleitet und über mögliche Gefahren des Internets informiert werden. Hilfreich kann ebenfalls die Installation einer Schutzsoftware sein, die pornografische Inhalte herausfiltert. Bis zu einem gewissen Alter sollten Kinder möglichst keinen Bezug zum Internet haben, rät Lehmann weiter. Doch auch die Eltern selbst seien in der Pflicht: Kinder hätten ein feines Gespür für die Atmosphäre, in der sie sich befinden. Daher sei es von Bedeutung, dass Eltern eine Vorbildfunktion einnehmen. Dies gelingt z.B. mit einem verantwortungsbewussten Umgang mit sozialen Medien, persönlich keine Pornografie zu konsumieren und dadurch, dass Eltern wertschätzend und beziehungsorientiert über Geschlecht und Sexualität sprechen.

Würde des Kindes wahren

Die Würde des Kindes zu wahren und Kinder bestmöglich vor Sexualisierung zu schützen, ist elementar laut Lehmann. Dazu gehöre auch eine gesunde Sexualaufklärung, und zwar idealerweise vor dem Sexualkundeunterricht in der Schule. Dieser wäre teilweise zu stark ideologisch eingefärbt und oftmals nicht altersgerecht.

Apropos: Wenn wir bei Ratschlägen zur elterlichen Aufklärung sind, so muss zuerst einmal gefragt, was nicht Aufgabe von Aufklärung zu Hause sein sollte: Kinder wollen und müssen beispielsweise nicht im Detail wissen, was im elterlichen Schlafzimmer passiert, findet die Familienfachfrau. Ausserdem solle Aufklärung nicht verstörend sein und müsse daher ans Kindsalter angepasst werden. „Sex soll weder tabuisiert noch überhöht werden“, so Lehmann. „Der Geschlechtsverkehr soll Ausdruck von Beziehung, Liebe und Treue sein.“ Sex sei nicht einfach eine „Selbstbefriedigung zu zweit“, erklärte die Familienhelferin.

Eltern, die noch nicht genau wissen, wie sie ihr Kind aufklären sollen, empfiehlt Lehmann, sich ein gutes Buch zum Thema zu kaufen, um sich erst mal selbst mit der Thematik vertraut zu machen. Hilfreich sei auch, die eigene sexuelle Geschichte zu analysieren, sich also Fragen zu stellen wie: „Welche Erfahrungen habe ich selbst gemacht?“ oder „Wie wurde ich selbst aufgeklärt?“ Empfehlenswert sei ausserdem, zusammen mit dem Kind ein altersentsprechendes Aufklärungsbilderbuch anzuschauen.

Blick auf die Historie der Sexualethik

Als Exkurs sei an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die Historie der Sexualethik und Sexualaufklärung geworfen: Früher galt Sex als Zweck zur Fortpflanzung, der mit Scham behaftet war und über den man in der Regel nicht sprach. Die Ehe galt als Verbindung zwischen Frau und Mann und als Grundvoraussetzung für die Gründung einer Familie. Wer geschieden war oder wessen Eltern unverheiratet waren, galt als anrüchig. Erst durch die Einführung der „Pille“ 1961, mit der einigermassen sicher verhütet werden konnte, erreichte die sogenannte „Sexuelle Revolution“ eine neue Stufe.(1) Vor der „Freien Liebe» musste man keine Angst mehr haben, denn eine ungewollte Schwangerschaft liess sich nun verhindern. Bereits 1942 wurde einvernehmlicher homoerotischer Geschlechtsverkehr unter Erwachsenen in der Schweiz mit Artikel 191 StGB legal (www.wikipedia.org), in Deutschland wurden homoerotische Aktivitäten mit der Abschaffung von Paragraf 175b im Jahr 1969 erlaubt (www.wikipedia.org). Ein weiterer Schritt zur „Freien Liebe“ war die 1967 ins Leben gerufene „Kommune 1“, ein Zusammenschluss junger Kulturrevolutionäre in Berlin, die in ihrer eigenen kleinen Welt im Bereich der Sexualität alles taten, was in der bürgerlichen Welt verpönt und geächtet war (2). Auch die Grünen-Bewegung, die ebenfalls am Entstehen war, hatte neben der Umweltthematik die „Freie Liebe“ als Ideal. Heftige Kritik mussten die Grünen für Vorschläge hinnehmen, die Geschlechtsverkehr mit Kindern erlauben sollten (3) . Noch heute gibt es aktive Politiker, die die Legalisierung von Pädophilie forderten, so z.B. Jürgen Trittin, der vier Jahre lang Co-Vorsitzender von „Bündnis 90/Die Grünen“ war und noch heute Bundestagsabgeordneter ist (www.welt.de, www.wikipedia.org).

Und wie sieht es in der Jugend aus?

Zurück zu Regula Lehmann: Sie erklärt, dass Erziehung nichts sei, was mit dem Beginn der Pubertät aufhört: „Die Pubertät ist der dümmste Moment, um junge Menschen allein zu lassen“. In ihren Teenagerjahren müssten Jugendliche ein Stück weit vor sich selbst geschützt werden, denn sie seien oftmals unsicher in dem, was sie tun oder wollen. Es sei wichtig, klare Grenzen zu setzen. „Es ist ganz normal, dass es in diesem Prozess zu Spannungen kommen kann. Reibung erzeugt Wärme“, meint Lehmann locker. In der Pubertät entdecke der Mensch die eigene Sexualität, was junge Menschen tendenziell auch anfällig für Pornografie mache. „Die Mischung aus Ekel und Faszination hat ein hohes Suchtpotential“, so die Familienfachfrau. Pornos würden die eigenen inneren Bilder zerstören, sexualisierte Gewalt als etwas Normales zeigen, Jugendliche überfordern und die Hemmschwelle zu sexuellen Übergriffen abbauen. „Pornografie erzeugt völlig falsche Rollenbilder von Männern und Frauen und zeigt unrealistische Sexualpraktiken. Keuschheit heisst für mich, mit etwas, das kostbar ist, bewusst umzugehen“, schilderte sie mir, als unser Gespräch langsam zu Ende geht.

Während ich zum Thema recherchiere, bemerke ich eines: Sexualerziehung ist nichts, was nur im Elternhaus geschieht. International gibt es Bestrebungen, den Umgang der Menschen mit Sexualität zu beeinflussen. So setzt sich z.B. die Weltgesundheitsorganisation WHO Ziele, wie z.B. „eine umfassende Sexualerziehung in schulischen Lehrplänen und ausserhalb von Schulen oder in Programmen für Jugendliche“ (4). Interessant ist dabei die Begrifflichkeit „Sexualerziehung“ statt „Sexualaufklärung“. Zu den Ursachen sexualisierter Gewalt zählt die WHO nicht erstrangig Pornografie, sondern den Mann. So nimmt sie sich die „Bekämpfung negativer männlicher Rollenbilder und stereotypischer Vorstellungen von Männlichkeit“ (5) vor – und die „Erleichterung des Zugangs zu fachgerecht durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen“. (6)

Dass die Strategie der WHO bereits in zahlreichen Ländern Teil der Politik ist und sich durchgesetzt hat, davon zeugen nicht zuletzt die hohen Abtreibungsraten in den europäischen Ländern. Auch die Schweiz bildet da keine Ausnahme, wie die jüngste Statistik des Bundesamtes für Gesundheit zeigt: Seit 2017 hat die Zahl der Abtreibungen hierzulande wieder zugenommen. Zeit also, sich ernsthaft zu fragen, ob es nicht höchste Zeit ist, sich von WHO-Massstäben zu lösen und für ein Umdenken in der Familienpolitik und Sexualerziehung – für weniger Abtreibungen und zum Schutz von Minderjährigen vor Pornografie.

 

Anmerkungen:

(1) Magdalena Paulus, „Das Erbe der 68er“, 2015, Stiftung Christliche Medien, S. 18

(2) Magdalena Paulus, a.a.O., S. 19

(3) Magdalena Paulus, a.a.O., S. 19–20

(4) S. 11 Aktionsplan zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit: Auf dem Weg zur Verwirklichung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in Europa – Niemanden zurücklassen

(5) a.a.O., S. 13

(6) a.a.O., S. 15

 

Literaturempfehlungen:

Für Lehrer: Lehrmittel „Powergirls & Starke Kerle“, ein Arbeitsheft für altersgerechten Sexualkundeunterricht in der 5. und 6. Klasse, Lehrmittel für wert-volle Sexualpädagogik

Aufklärungsbücher für Eltern und Kinder:

Regula Lehmann und Pascal Gläser, „Wir Powergirls: Das schlaue Mädchenbuch“, Fontis Verlag, 2018, 3. Auflage, Wir Powergirls

Regula Lehmann und Pascal Gläser, „Rakete startklar! – Wie aus Jungs echte Kerle werden“, Brunnen-Verlag Basel, 2014, Rakete startklar

Für Eltern und Pädagogen: Ratgeber-Broschüre „Kinder wirksam vor Pornografie schützen‟, Zukunft CH, Winterthur 2022, kostenfrei bestellbar bei Zukunft CH, www.zukunft-ch.ch