Mit Kindern Weihnachten zu feiern, kann eine der schönsten Erfahrungen überhaupt sein. Auch für Erwachsene bekommt das Fest so den Zauber zurück, den es vielleicht bereits verloren hatte. In vielen Familien jedoch ist Weihnachten inzwischen von einem Fest der Liebe zu einem Fest des Überflusses und des Konsumrauschs geworden. Das gilt auch für andere Festtage wie Ostern oder Geburtstage.

Von Christiane Jurczik

Schon ganz kleine Kinder stehen einem Berg an Geschenken gegenüber, mit dem sie nichts anfangen können – und ehe man es sich versieht, ist jeder nur mit sich und seinen Massen an Paketen beschäftigt. Das gemeinsame Feiern rückt völlig in den Hintergrund.

Doch das ist nicht das Schlimmste. Geschenke haben auch einen enormen Einfluss auf die Psyche der Kinder. „Mit zu vielen Geschenken sind Kinder überfordert“, sagt die Psychologin Svenja Lüthge. „Ein Kind, das zehn Dinge auspackt, hat keine Freude an jedem einzelnen, weil es nicht weiss, welchem es sich zuwenden soll.“ Das sei ähnlich wie beim Loben, bestätigt der bekannte Kinderarzt Herbert Renz-Polster. „Ein Lob verliert auch seinen Wert, wenn Kinder damit überschüttet werden.“

Die Bescherung während des Weihnachtsfests etwa sollte nicht den Hauptteil des Abends ausmachen. Damit könne man viel kaputt machen, warnt er. „Das gemeinsame Fest, auf das sich Kinder so lange im Voraus freuen, die Magie, das Funkeln… alles geht verloren. Bei Kindern, die ein Geschenk nach dem anderen auspacken, erlischt das Leuchten in den Augen.“

Kinder müssen sehen, dass sie ihren Eltern etwas wert sind

Dieser Effekt lässt sich sehr simpel erklären. Um zu verstehen, was ein Berg von Geschenken bei Kindern auslöst, muss man zunächst erkennen, was Kinder in ihrer Entwicklung wirklich brauchen. „Das grösste Geschenk, das man Kindern machen kann, ist ein aufmerksamer, wertschätzender Umgang mit ihnen“, sagt Armin Krenz, Wissenschaftsdozent für Elementarpädagogik und Entwicklungspsychologie und Autor mehrerer Bücher.

Das Wichtigste, dass Kinder in den ersten Lebensjahren mitbekommen müssten, sei die Gewissheit: „Ich bin geliebt. Ich bin etwas wert für meine Eltern. Ich bin gewünscht und willkommen. Andere haben ein Interesse an mir als Person.“

„Wenn diese tiefe, feste Beziehung nicht vorhanden ist“, erklärt Krenz, „denken Kinder unterbewusst Dinge wie ‚Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich etwas habe‘. Oder: ‚Ich bin nur dann wertvoll, wenn ich etwas geschenkt bekomme, das ich haben will.‘“ Jetzt nämlich kommen ganz grundlegende psychische Bedürfnisse von Kindern ins Spiel. „Wenn es ein Ungleichgewicht gibt zwischen den seelischen Bedürfnissen einerseits und einer Menge an Geschenken andererseits, kommt es zuallererst zu einer Materialbefriedigung, die unaufhaltsam steigen wird“, erklärt Krenz, der viele Jahre am renommierten Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik in Kiel tätig war.

Zu den seelischen Bedürfnissen, von denen er hier spricht, gehört beispielsweise, dass Kinder Respekt spüren, Liebe und Wertschätzung erfahren, dass ihre Eltern ihnen und ihren Interessen Aufmerksamkeit entgegenbringen und ihnen zuhören. „Kinder kompensieren ein solches Ungleichgewicht, indem sie materielle Güter sammeln“, sagt der Psychologe.

Mangel an Glückshormonen im Gehirn

Diese Geschenke habe zwei Nachteile: „Entweder führen sie schnell zu einem Reizverlust – dadurch wird der geschenkte Gegenstand uninteressant – oder Kinder sind vollkommen auf einen Gegenstand fixiert und zeigen kein weltoffenes Interesse an ihrem Umfeld.“ Untersucht man nun die Gehirnentwicklung, lässt sich Folgendes feststellen: „Im Gehirn entsteht bei einem Bedürfnisdefizit ein Mangel des Glückshormons Dopamin“, erklärt Krenz. Den versuche das Gehirn auszugleichen und zwar mit sogenannten punktuellen Freudeimpulsen. Die könne der Mensch nur spüren, wenn er immer wieder etwas Neues bekomme, sagt er. Die Folge: „Das Kind gelangt in eine fatale Wunschspirale.“ Krenz vergleicht den Effekt mit dem bei Erwachsenen, die spielsüchtig sind. „Sie verlieren, aber sie denken: Je häufiger ich spiele, desto grösser ist die Chance, dass ich beim nächsten Mal gewinne. Bei Kindern äussert sich ein Überfluss an Gegenständen häufig in der Unfähigkeit, sich selbst zu beschäftigen und kreativ zu werden.

Die Wunschspirale macht Kinder egozentrisch

„Ich habe schon viele Kinder erlebt, die ein Spielzimmer voller Sachen haben und sagen ‚Mir ist so langweilig‘“, sagt Krenz, der auch lange Zeit als Familientherapeut aktiv war. „Ihre Eltern haben es nicht geschafft, eine starke Beziehung zu ihnen aufzubauen, durch die das Kind in eine Selbstaktivität findet.“

Das bedeutet: Kinder, die eine starke Bindung zu ihren Eltern haben und sich geliebt fühlen, sind erfinderischer und viel mehr dazu in der Lage, selbstständig Neues zu erschaffen. Aus der Wunschspirale entstehe bei den Kindern ein Egozentrismus, erklärt Krenz. „Diese Kinder befinden sich auf der konstanten und ausweglosen Suche nach Glück.“

Wenn es Kindern also offensichtlich so schadet, wenn sie sehr viele Geschenke bekommen – warum neigen viele Eltern, Verwandte und andere Personen im näheren Umfeld dann dazu, trotzdem so exzessiv zu beschenken? Denn: Eltern verwenden immer grössere Summen für die Spielsachen ihrer Kinder. Laut dem Institut für Handelsforschung in Köln waren es bei der letzten Berechnung in Deutschland gut 6,5 Milliarden Euro im Jahr.

Häufig schenken Eltern aus den falschen Impulsen heraus

Die meisten Eltern meinten es mit dem Schenken ja gut, beteuert Kinderarzt Renz-Polster. „Aber mir tun Eltern leid, die ihre Kinder mit Geschenken überhäufen müssen, um ihnen zu zeigen, dass sie sie lieben.“

Häufig stecken hinter Geschenken für Kinder falsche Impulse, beobachtet auch Psychologe Krenz. „Oft beschenken Eltern Kinder schlicht, um sie ruhig zu stellen. Das sind dann häufig elektronische Geräte wie Fernseher oder Smartphones, Spielkonsolen oder trendige Kleidung.“ Und: „Geschenke fungieren auch häufig als Wiedergutmachung für zu wenig gemeinsame Zeit. Um ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen, versuchen Eltern, zumindest die Konsumwünsche ihrer Kinder bestmöglich zu erfüllen.“

Psychologin Lüthge rät zunächst zu einer einfachen Regel: „Je jünger das Kind, desto stärker sollten Eltern den Leitsatz im Kopf haben ‚Weniger ist mehr‘.“

Was Kinder wirklich brauchen, kann man nicht kaufen

Kinder haben ein sehr gutes Gespür dafür, wenn Eltern versuchen, über Geschenke fehlende Zeit zu kompensieren. Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Liebe und Zuneigung. All das kann man nicht kaufen, sondern nur geben. Dass Eltern für das Kind da sind, das ist ihm so viel wichtiger, als wenn es alle Playmobil-Häuser der Welt geschenkt bekommt. Für Kinder ist es mehr wert, wenn sie sich in den Arm der Mutter kuscheln können und vorgelesen bekommen, als wenn auf dem Tisch das neueste Spielzeug liegt.

Quelle: Aktion Kinder in Gefahr