Dass Jugendliche sich im falschen Geschlecht wähnen und im Extremfall eine Transition anstreben, ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Die Fallzahlen sind in vergangenen Jahren unverhältnismässig angestiegen – und damit auch die Gabe von Hormonblockern sowie operative Eingriffe. Ist das medizinisch sinnvoll?

Bis Ende 2023 soll es in Deutschland eine neue Leitlinie für Diagnostik und Behandlung bei Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter geben. Der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte behandelt seit vielen Jahren Betroffene an der Münchner Universitätsklinik (LMU). Er gehört jener Kommission an, die den Inhalt der neuen Leitlinien in Deutschland erstellt. Er meldet vor allem Bedenken an, Pubertätsblocker bei Kindern mit Geschlechterdysphorie einzusetzen: Es gäbe zu wenige Belege für einen Nutzen, gleichzeitig sei das Ausmass der Schäden durch diese Medikamente ungeklärt, so Korte gegenüber der FAZ (online, 14.9.2023). „Wir haben nicht genügend wissenschaftliche Belege, um das in einer Leitlinie zu fixieren“, betont der Psychiater.

Studie plädiert für ganzheitlichen Zugang

Gemeinsam mit dem Psychologen Volker Tschuschke (Universität Köln) ist Korte den möglichen Ursachen der steigenden Wünsche nach Geschlechtsumwandlungen nachgegangen. In ihrem Beitrag „Sturm und Drang im Würgegriff der Medien – Die Leiden der jungen Generation am eigenen Geschlecht“, veröffentlicht in der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Band 51(5), 2023, S. 351ff.) greifen sie auch kulturelle und mediale Einflussfaktoren für einen Transitionswunsch bei Jugendlichen auf. Das vielfach propagierte Modell einer „geschlechtsangleichenden“ Behandlung stellen die Wissenschaftler in Frage. Stattdessen sprechen sie sich in Diagnose und Therapie für die Übernahme einer entwicklungspsychiatrischen Perspektive aus. Für die Therapie schlagen sie eine ganzheitliche Herangehensweise vor.

Eine verzerrte Selbstwahrnehmung kann Ausdruck einer psychischen Störung sein

Offenkundig sei, dass sich diese Kinder und Jugendlichen „mehrheitlich in sehr ernsten psychischen Nöten befinden, die aufgrund des Leidensdrucks eine hohe Krankheitswertigkeit besitzen“. Andererseits bestehe das Risiko, dass sich Therapeuten und Ärzte für den geäusserten Wunsch vereinnahmen lassen. Damit würden die Betroffenen letztlich in die Irre geführt. Eine operative „Geschlechtsangleichung“ bringe unvermeidbar Verstümmelungen am Körper mit sich. Jugendliche seien sich jedoch der Tragweite ihrer Entscheidung nicht bewusst, sie blenden die lebenslangen Folgen einer somato-medizinischen Transitionsbehandlung aus.

Zuständigkeit für Beratungsangebote idealerweise bei ärztlichen Einrichtungen

Wenn Beratungsangebote für minderjährige Personen gestärkt werden, falle des erstranging den therapeutischen und ärztlichen Fachgesellschaften zu, so Korte. Berater, die nur mit eigenen Erfahrungen zu LSBTIQ-Themen qualifiziert sind, argumentierten zwar mit einer Entpathologisierung von „trans“. Es liegen aber genügend wissenschaftliche Belege dafür vor, dass sich die Selbstdiagnose „trans“ im Entwicklungsverlauf nachträglich auch als Fehldiagnose herausstellen kann.

Hinter dem Leiden an der eigenen Geschlechtlichkeit liege häufig eine subjektiv verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, was in der Natur psychischer Störungen liegt. Dass diese von Nicht-Fachleuten in Beraterstellen übersehen bzw. nicht erkannt werden, sei eine mögliche Gefahr.

Labile Durchgangsphase tritt gleichzeitig mit Omnipotenz-Gefühlen auf

Die Psychoanalytikerin Alessandra Lemma (2022), eine auf Trans-Personen spezialisierte Therapeutin, habe, so die Wissenschaftlerin, darauf hingewiesen, dass Jugendliche in der Pubertät eine betont unreife und labile Durchgangsphase erleben. Das subjektive Erleben des Geschlechts und der Prozess der Adoleszenz seien durch Fluidität und Unsicherheit gekennzeichnet. Gleichzeitig komme es in dieser Entwicklungsphase zu der Überzeugung, alles sei machbar. Das gefühlt omnipotente Greifen nach allen möglichen Identitäten könne genauso schnell verworfen, wie durch ein neues, scheinbar besseres Verlangen ersetzt werden, so Lemma.

Der Wunsch nach Einzigartigkeit führt zu neuartigen Identifikationsschablonen

Auf gesellschaftlicher Ebene ist eine Tendenz zur Individualisierung und das Streben nach Einzigartigkeit bei Jugendlichen festzustellen. Ein hoher Prozentsatz junger Menschen lässt den eigenen Körper mittels Tätowierungen oder Piercing modifizieren. Mittlerweile sei ein kohärentes Selbst nur noch zum Preis körperlicher Eingriffe zu haben, was auch medial propagiert wird. Nicht bloss der Body Mass Index (BMI), sondern auch die Kategorie des Geschlechts sei fluide und korrigierbar. Soziale Netzwerke sorgen dafür, dass Jugendliche solche Inhalten nicht mehr nur passiv konsumieren, sondern selbst aktiv neuartige Identifikationsschablonen generieren.

Vier Ursachen kommen für die Häufigkeitsanstiege in Frage

Die Wissenschaftler geben vier mögliche Ursachen für den Häufigkeitsanstieg an:

  1. Ein Anstieg von Selbstdiagnosen junger Menschen im Gefolge von Videos in sozialen Netzwerken wie Youtube, Instagram, Tumblr, Reddit, oder TikTok, wo junge Menschen euphorisch über ihre Geschlechtsumwandlung berichten, meist in Verbindung mit dem nicht hinterfragten Narrativ „im falschen Körper geboren“ zu sein.
  2. Das tolerante gesellschaftliche Klima für Transpersonen und die Akzeptanz queerer Lebensentwürfe bewerten die Forscher grundsätzlich als positiv,  halten dies aber gleichzeitig nicht in jeder Altersstufe für förderlich.
  3. Das neue Angebot der hormonellen Pubertätssuppression (GnRH-Analoga-Therapie) habe zu einem Anstieg der Inanspruchnahme beigetragen.
  4. Die realitätsferne Überzeugung, dass ein Geschlechtswechsel in jedem Fall medizinisch problemlos herbeigeführt werden könne, solle auf der Grundlage einer „freien Wahl des Geschlechts“ als einer Art verbrieften Grundrechts erfolgen.

Kritik am deutschen Gesetz zur Selbstbestimmung

Kritisiert wird von den Forschern der 2023 erstellte Referentenentwurf zweier Bundesministerien (Familie und Justiz) in Deutschland für ein „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften“, womit das alte Transsexuellen-Gesetz mit seiner Begutachtung zur Vornamens- und Personenstandsänderung abgelöst werden soll.

Wenn bei den unter 14-jährigen die Eltern oder Sorgeberechtigten bei der standesrechtlichen Geschlechtsumwandlung nur eine Erklärung abgeben müssen, bei über 14-jährigen lediglich eine Zustimmung der Eltern nötig ist, dann sei zu fragen: a) wer denn die Bewertung vornehmen soll, ob die Änderung der Angabe zum Geschlecht und der Vornamen dem Kindeswohl entspricht (oder diesem zuwiderläuft) und b) ob Kinder mit Vollendung des 14. Lebensjahres regelhaft in der Lage sind, Bedeutung, Tragweite und Folgen einer solchen Entscheidung einschätzen zu können.

Quelle: Publikation mit freundlicher Genehmigung des Instituts IMABE