In der Advents- und Weihnachtszeit «verwöhnen» wir unsere Kinder, Patenkinder oder Enkelkinder gerne mit Geschenken. Verwöhnung lässt sich jedoch nicht auf die Art und den Umfang von Geschenken reduzieren. So räumen wir als Eltern unseren Kindern im Alltag allzu gerne Hindernisse aus dem Weg oder packen sie in Watte, weil wir Konflikte scheuen.
Mit dem Buch «Die Verwöhnungsfalle» hat der Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch einen Bestseller geschrieben. In zwölf Jahren wurden dreizehn Auflagen verkauft, das Buch wurde sogar ins Chinesische und Koreanische übersetzt und der Autor zu mehr als 400 Vorträgen eingeladen. Inzwischen liegt das Buch als 14. überarbeitete und erheblich erweiterte Neu-Auflage vor. Die Schweizerische Stiftung für die Familie hat den Erfolgsautor in Deutschland getroffen.

SSF: Herr Dr. Wunsch in Ihrem Erziehungsbestseller «Die Verwöhnungsfalle» beschreiben Sie die negativen Folgen des Verwöhnens und mit einem Selbsttest am Schluss des Buches fordern Sie Eltern auf, ihren Erziehungsstil kritisch zu hinterfragen. Ab wann wird Verwöhnen problematisch?

Albert Wunsch: Das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit der Verwöhnung belegt, dass ein solches Handeln immer negativ ist. Sprachgeschichtlich kommt das Wort «Verwöhnen» vom mittelalterlichen «verwenen». Dies bedeutet, an etwas in übler Weise gewöhnen. Das mittelhochdeutsche «wenen» bedeutet «gewöhnen», zu schlechten Gewohnheiten veranlassen. Bezogen auf Kinder werden auch Begriffe wie verziehen, verzärteln, verweichlichen und übertriebenes Umsorgen gebraucht. Werden Menschen auf verwöhnte Kinder angesprochen, wird dies nach meiner Erfahrung immer mit negativen Kommentaren quittiert. Zur Falle wird der Vorgang deshalb, weil sich die Verwöhnung oft als liebevolle Zuwendung tarnt.

Woran erkenne ich, wenn ich mein Kind verwöhne?

Albert Wunsch: Wenn ein Kind vieles nicht eigenständig kann und häufig Forderungen stellt, ist dies ein ziemlich klares Zeichen, dass etwas schief läuft. Genauso wenn situationsbezogene Sonderzuwendung – im Krankheitsfall etwa oder vor der Maturprüfung – später erneut eingefordert werden.

Sie betonen in Ihrem Buch, dass in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes die entscheidenden Weichen für das spätere Leben gestellt werden. Eine weit verbreitete Ansicht ist, dass man einen Säugling gar nicht verwöhnen kann, weil er Aufmerksamkeit und Zuwendung ja brauche.

Albert Wunsch: Dass die ersten drei Lebensjahre die prägendsten sind, hat uns spätestens die Bindungsforschung klar gemacht. Aber wenn wir einen Hunde-Trainer, Löwen-Dompteur oder Baum-Züchter fragen, werden auch sie unterstreichen, dass zum Beginn die Weichen für das weitere Werden gestellt werden. Insoweit kann man ein Kind auf grundlegende Weise auch von Anfang an verwöhnen. Denn jede Unterforderung, jede leicht gemachte Annehmlichkeit wird die Entwicklung von Selbstkompetenz verhindern. Bekommt beispielsweise ein Säugling nur ein einziges Mal die Flasche mit zu grosser Saugöffnung, wird diese Trinkerleichterung ab sofort lauthals eingefordert. Frühes eigenständiges Trinken, Essen, Kauen oder sich mit sich selbst beschäftigen können ist somit das Ergebnis eines förderlichen Umgangs. Dann lernen Kinder zum Beispiel ab dem ersten Geburtstag selber mit dem Löffel zu essen und aus einem Becher zu trinken. Eine konsequent-liebevolle Erziehung beginnt für mich einen Tag nach der Geburt.

Gibt es denn ein richtiges Mass an Zuwendung?

Albert Wunsch: Zuwendung orientiert sich am Anderen: Benötigt ein Dreijähriges ein Taschentuch, genügt es, wenn die Mutter ihrem Kind dieses reicht – Nase putzen kann es selbst. «Verwöhn-Eltern» hingegen stellen nur auf den ersten Blick die vermeintlichen Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt. Beim genauen Hinschauen aber offenbart sich, dass es ihnen um ihr eigenes Wohlbefinden geht: Sie scheuen Konflikte, wollen ihre Ruhe haben, sich beliebt machen oder sich nicht mit dem Eigensinn des Kindes auseinandersetzen. Gerade in Trennungs- und Scheidungsfamilien ist das Verwöhnen ein häufiges Phänomen: Beim Wochend-Papa z.B. gibt‘s etwas mehr Eis und Filme und weniger Nein als bei Mama. Aber dabei geht es nicht ums Kind, sondern um die Absicherung der eigenen Position.

Wie kommen Eltern aus der Verwöhnungsfalle heraus?

Albert Wunsch: Indem sie ihr Tun hinterfragen! Habe ich so gehandelt, weil es um das Kind oder um mich ging? Nehmen Eltern ihrem Nachwuchs alles ab, verhindern sie ihm die Chance auf Erfolgserlebnisse. So wie jener Junge, der im Kindergarten ein Muttertagsherz bastelt. Die Erzieherin schneidet das kantige Gebilde gerade, weil es ihrem ästhetischen Empfinden nicht entspricht. Die Mutter wiederum lobt: «Das hast du aber akkurat ausgeschnitten!» Und der Junge lernt: Ich muss einfach jemanden suchen, der es für mich glättet. Nur: 10 Jahre später im Beruf gibt es niemanden, der Situationen für ihn ausbügelt. Deshalb sollten Eltern ihr Verhalten in regelmässigen Abständen überprüfen und gegenseitig reflektieren.

Tragen Eltern die Tendenz zum Verwöhnen nicht einfach in sich?

Albert Wunsch: Ich gehe davon aus, ja. Im Säuglingsalter ist viel mehr Fürsorge für ein Kind notwendig als in späteren Jahren. Die Kunst ist es zu erkennen, ab wann ein Kind etwas alleine kann. Im Grunde sollten Eltern bei jedem Geburtstag 1/18 ihrer Fürsorge runterfahren, um am 18. Geburtstag bei 0 angelangt zu sein. Das tun aber die wenigsten.

Sind heutige Eltern anfälliger fürs Verwöhnen als frühere Generationen?

Albert Wunsch: Ja. Meine Grosseltern hatten zehn Kinder. Den Unfug, den man heute mit einem macht, ging damals schlichtweg nicht. Zudem ist ein Kind heute oft eine Art Projekt: Erst Studium, dann Job, dann Haus, dann Kind – in das alle Energie und Projektionen gesteckt werden. Vom chinesischen Au-pair über Frühförderungskurse bis zur Rundum-Überwachung. Auch werden Eltern durch die Konsumgesellschaft geprägt, wo Genuss und leicht gemachte Annehmlichkeiten als Selbstverständlichkeit gesehen werden.

Ist heutigen Eltern das richtige Gespür verloren gegangen?

Albert Wunsch: In gewisser Weise schon. Mit der Leitparole «Erziehung ist Drangsal und Druck» steuerte die 68er-Generation ihren Teil dazu bei. Vieles, was selbstverständlich sein sollte, brach weg. Auch der Satz «Lernen muss Spass machen» stammt aus dieser Zeit. Er ist so ziemlich die dümmste Aussage, die je zum Thema Schule gemacht wurde. Natürlich ist es schön, wenn Unterricht Freude bereitet, aber Spass steht hier nicht im Vordergrund. So werden bei Schülern lediglich nicht haltbare Entertainment-Erwartungen geschürt.

In Ihrem Buch sprechen Sie von der Scheu vieler Eltern, als Autorität aufzutreten, weil sie es mit autoritärem Verhalten verwechseln.

Albert Wunsch: Jede Entscheidung, die Menschen treffen, setzt voraus, dass sie Rückgrat haben. Wer als Eltern glaubt, von Kindern geliebt werden zu müssen, verfällt einem Trugschluss. Väter und Mütter sollten ihre Kinder ins Leben begleiten; für die Liebesbedürfnisse der Eltern hingegen sind deren Partner zuständig. Wenn ich als Alleinerziehender meinem Kind eigene Gefühle und Unsicherheiten mitteile – oft einem Partnerersatz gleich – ist das zwar verständlich, aber schädlich, im Grunde eine ganz subtile Art von Kindesmissbrauch.

Die Advents- und Weihnachtszeit ist Hochsaison für die Spielwarengeschäfte. Mein Eindruck ist, dass Kinder heute oft mit grossen Geschenken überhäuft werden. Gleichzeitig werden die Wunsch-Zettel immer länger. Was raten Sie Eltern, Taufpaten, Onkel, Tanten und Grosseltern?

Albert Wunsch: Die Wünsche der Kinder sind ein Spiegel, welches Weihnachtsverständnis in Familien bzw. innerhalb der Gesellschaft existiert. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses urchristliche Fest inzwischen zur grössten Verwöhn- und Konsum-Orgie des Jahres mutierte und in dem Umfang, in welchem die ursprüngliche christliche Basis von Weihnachten schwindet, die Geschenkeberge zunehmen.

Das Problem sind nicht die überbordenden Wünsche von Kindern, sondern der angemessene Umgang damit. So sollten Kinder möglichst bald den Unterschied zwischen einem Wunschzettel und einem Bestellzettel kennenlernen. Und Eltern sollten lernen, dass sie auch für eine möglicherweise zu erwartende Geschenkeflut der lieben Verwandten eine Verantwortung haben. Das ist besonders bei Patchwork-Familien wichtig, weil hier oft ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Kind oder ein Kampf um die Gunst des Kindes existiert.

Kinderwünsche orientieren sich daran, was gerade «in» ist oder was Freunde haben, um im Gleichaltrigen-Kreis dazu zu gehören. Wenn sich beispielweise der 15-jährige Enkel ein Moped wünscht, dann können die Grosseltern auch einen Geld-Betrag schenken. Es wäre aber einfallslos, wenn sie den 50-Euro-Schein in einen Briefumschlag stecken. Sie sollten das Geld wenigstens kunstvoll verpacken, damit die Bitte eines Besuchs mit dem Moped verbinden, ihn besuchen, wenn er mit seiner Clique besondere Fahrkünste zeigt. So zeigen sie ihrem Enkel, dass sie sich Mühe geben und er ihnen wichtig ist. Eine wichtige Mitteilung von Eltern kleinerer Kinder an den Kreis der Schenkenden ist folgender Denk-Impuls: Wenn ihr euch jenseits unserer elterlichen Schenk-Empfehlungen bewegen wollt, ist dies eure Entscheidung. Ob oder wann wir das Geschenk den Kindern überlassen, ist dann unsere Entscheidung.

Bei allen – wirklich auf ein Kind abgestimmten – Geschenken sollte zum Ausdruck kommen: Es geht nicht in erster Linie um Geldbeträge oder Gegenstände, sondern um den Erhalt oder Aufbau guter Beziehungen. Die Zeit, die wir mit unseren Kindern oder andern uns wichtigen Menschen verbringen, ist – besonders in oft hektischen Tagesabläufen – das wertvollste Geschenk.

Das Buch «Die Verwöhnungsfalle» von Albert Wunsch kann über die SSF-Webseite bestellt werden:

Pressemitteilung der Schweizerischen Stiftung für die Familie (SSF)