Surft man dieser Tage durch die Online-Portale der Schweizer Zeitungen, wird deutlich, wie vielen Leuten die Sex-Plakate des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) gegen den Strich gehen: „Auch Teenager, die gut aufgeklärt sind, möchten selbst entscheiden, wie viel sie vom Sex anderer Leute sehen möchten (Erwachsene übrigens auch)“. Oder: „Welche Eltern möchten ihre Söhne und Töchter auf solchen Plakaten wiedererkennen? Welche Eltern möchten mit ihren kleinen Kindern vor einem solchen Plakat auf den nächsten Zug warten? Sexualität ist etwas Intimes, was nicht auf die Strasse gehört.“
„Moralapostel“ BAG

Es sind nicht nur ein paar angeblich „Ewiggestrige“, die nochmals – vielleicht ein letztes Mal – gegen den Verfall der öffentlichen Moral lautstark aufbegehren. Bei dem ganzen Disput um die Love Life-Kampagne stehen nicht auf der einen Seite die offenen Liberalen und auf der anderen Seite die verklemmten Konservativen. So einfach, wie manche Kommentatoren das gerne hätten, ist es nicht! Auch geht es bei dem von der Stiftung Zukunft CH angestossenen verwaltungsrechtlichen Verfahren nicht etwa darum, anderen die eigenen Moralvorstellungen überzustülpen. Vielmehr soll primär verhindert werden, dass gerade das BAG seine eigene, auf ein Stück Gummi geschrumpfte Sexualmoral als staatlich legitimierte Norm verbreiten darf: Folge zu jeder Zeit und überall deinem Trieb, aber vergiss dein Kondom nicht! In diesem Sinn bringen die „No regrets“-Plakate weit mehr als nur die nackte Haut von etwas exhibitionistisch veranlagten Mitbürgern ans Tageslicht. Sie zeigen auf drastische Weise, wie stark das Bundesamt für Gesundheit und seine Partner (Aids-Hilfe Schweiz und SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz) seit Jahren den Kontext der Prävention zur Propaganda für eine praktisch Tabu-lose Sexualität missbrauchen.

Das BAG scheint – wie eine Ärztin auf NZZ Online meinte – nicht begriffen zu haben, dass „beim Sex HIV nicht das einzige Problem ist, sondern dass v.a. sexuelle Abenteuer von Leuten, die in einer festen Partnerschaft leben, für den anderen Partner meistens sehr verletzend sind.“ Sexuelle Gesundheit hat mit Erlauben nicht nur mit sexuell übertragbaren Krankheiten, sondern vor allem auch mit Beziehung zu tun. Was besonders Frauen bezüglich ihres Sexuallebens besonders häufig bereuen, sind gemäss einer dem BAG bestens bekannten Studie von Andrew Galperin: partnerschaftliche Untreue, zu frühe sexuelle Intimität oder erste sexuelle Kontakte mit der falschen Person. Doch das scheint das BAG gar nicht zu interessieren!

Kümmerliches Menschenbild

Das BAG und seine Partner, die sich so sehr mit ihrem ganzheitlichen Ansatz in der Präventionsarbeit und der Sexualpädagogik brüsten, entlarven sich so als schlechte Kenner des Menschen. Denn umfassende sexuelle Gesundheit beinhaltet vor allem die spezifisch menschliche Fähigkeit, die Sexualität in die Erreichung langfristiger Ziele zu integrieren. Dazu gehören aber für die allermeisten Schweizer eine dauerhafte, stabile und beglückende Beziehung. Lust ist gut und schön, und die Sexualität lebt zu einem grossen Teil davon! Die Lust als ultimatives moralisches Leitprinzip hingegen ist – wie jeder Mensch aus eigener Erfahrung weiss – selten der Freund eines nachhaltig zufriedenen und erfüllten Lebens.

Wie sehr das BAG das Lustprinzip geradewegs zum kategorischen Imperativ erhebt, zeigt z.B. die Tatsache, dass Kampagne 2014 äusserst hilfreiche Auswertungsergebnisse vergangener Anti-Aids-Kampagnen ganz bewusst ignoriert. So hielt schon der Bericht zur Kampagne 2005 – deren Bilder noch deutlich weniger sexualisiert waren als die jetzigen – fest, dass die bildliche Darstellung von Sexualität zur Erregung von Aufmerksamkeit die eigentliche Botschaft konkurrenzieren oder gar in den Hintergrund drängen kann. Das Interesse des BAG, die Bevölkerung auf die sexuelle Freizügigkeit einzuschwören, geht offenbar so weit, dass sogar der Erfolg der Präventionsbotschaft und somit die einzige Legitimation solcher Kampagnen leichtsinnig aufs Spiel gesetzt wird. Kommt noch dazu, dass auf den „No regrets“-Plakaten eine eigentliche Präventions-Botschaft gar nicht mehr erkennbar ist.

Wer denkt an die Kinder?

Und das Kind? Auch an die Kinder hat das BAG gedacht, wie es sich für eine „ganzheitliche“ Präventionskampagne gebührt! Die oberste Gesundheitsbehörde der Schweiz sieht, wie sie letzte Woche allen Ernstes verlauten liess, in ihren Sex-Plakaten eine willkommene Gelegenheit für Eltern und Erzieher auf die Fragen von Kindern einzugehen. Wie auch ein Blick auf die Bestrebungen des BAG und seiner Partner im Bereich der schulischen Sexualpädagogik zeigt, setzen diese alles daran, dass Kinder Sexualität von Anfang an nur mit spielerischer Lustbefriedigung und Verhütung in Verbindung bringen. Langfristige Beziehung, Treue, Verantwortung und die wunderbare Würde der Sexualität, die in der Weitergabe des Lebens besteht, haben hier keinen Platz. Was für eine unglaublich erniedrigende Karikatur des Menschen!

Gesundheitsprävention und sexuelle Gesundheit sind also nur beschränkt von Moral zu trennen. Wo die beiden aber gar nicht zu trennen sind, hat die zuständige Behörde die nach objektiven Kriterien beste Moral zum Leitprinzip seines Handelns zu machen. Tut sie das nicht oder verletzt sie in ihrem Tun gar die besonderen, schutzwürdigen Interessen von Kindern und Jugendlichen – z.B. deren nach Bundesverfassung Art. 10/11 garantierte Integrität und geistige Unversehrtheit – kann sie dafür auf verwaltungsrechtlichem Weg zur Rechenschaft gezogen werden. Dies und nichts anderes ist im Moment im Gange!

Dominik Lusser