Hat sich in Ihrer Familie auch ein Wort eingebürgert, das eigentlich keines ist? Ein Kinderwort, das zu einem festen Bestandteil des Familienwortschatzes geworden ist? Einer meiner Neffen prägte im Alter von zwei Jahren das Wort „bajacka“. Wie er darauf kam, weiss bis heute niemand – es bedeutete nämlich „dunkel“.

Von Ursula Baumgartner

Kinderworte sind etwas Wunderbares. Sie zeugen von dem eifrigen Bemühen der Kleinen, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten und sprechen zu lernen. Und häufig erschliessen sie den Erwachsenen im Umfeld auch, was in den Kinderköpfchen vor sich geht und auf welche Weise sie lernen. So vertauschte mein ältester Neffe als Kleinkind die Worte „ich“ und „du“ – kein Wunder, sprachen ihn doch die anderen auch mit „du“ an und sagten „ich“ über sich. Diese Verwechslung sorgte für einiges Schmunzeln, wenn er beispielsweise in die Küche stürmte mit dem Satz „Durst hast du!“, um sich dann sein Fläschchen zu schnappen. Oder wenn er sich beim Spaziergang zu seiner Oma drehte, ihr seine Ärmchen hinaufstreckte und bettelte: „Soll ich dich tragen!“

Erschreckende Erkenntnisse

Inzwischen studiert er – und kann „ich“ und „du“ schon lange bestens unterscheiden. Auch der jüngere Bruder sagt „bajacka“ heute nur noch mit vergnügt-selbstironischem Lächeln. Somit geht es den beiden deutlich besser als vielen anderen ihrer Generation. Die deutsche KKH Kaufmännische Krankenkasse hat Daten zur Sprachentwicklung bei Kindern und Jugendlichen ausgewertet – mit erschreckenden Ergebnissen. Die Anzahl von 6- bis 18-Jährigen in logopädischer Behandlung steigt explosionsartig – innerhalb von gerade einmal zehn Jahren (von 2012 bis 2022) um 59 Prozent. Betrachtet man nur die Teenager zwischen 15 und 18 Jahren, ist der Befund sogar noch deutlich alarmierender. Hier stellte die KKH ein Plus von 144 Prozent fest. Zu bedenken ist auch, dass die KKH ja „nur“ die Zahl derer auswerten konnte, die einen Logopäden aufsuchten. Wie viele junge Menschen zusätzlich mit Sprachproblemen zu kämpfen haben, ohne Hilfe zu bekommen, lässt sich daraus also noch gar nicht ableiten.

Viele Ursache, eine Folge

Nun kann man natürlich die Frage stellen: Liegt die gestiegene Quote daran, dass es nur noch „Helikoptereltern“ gibt, die ihr Kind bei jeder Unsicherheit zum Therapeuten schleppen? Nein, die KKH zählt einige andere Ursachen auf. Probleme wie „unentdeckte Hörstörungen, genetische Veranlagung und anatomische Gründe wie ein fehlgebildeter Kiefer“ könnten ebenso zu Sprachdefiziten führen wie belastende Familiensituationen und Schicksalsschläge. Überdies stehen noch weitere Faktoren im Verdacht, die Sprachentwicklung zu verzögern oder zu stören. Vor allem mangelnde Kommunikation in der Familie und übermässiger Konsum von Bildschirmmedien sind hier zu nennen. Auch die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen und der Maskenpflicht trug wohl ihren Teil dazu bei, dass vor allem der Spracherwerb bei den Jüngsten erheblich erschwert wurde.

Funktion und Ebenen der Sprache

Wissenschaftler sind sich nicht ganz sicher, seit wann der Mensch in der Lage ist zu sprechen. Bis zu 1,8 Millionen Jahre könnten die Anfänge zurückliegen. Kulturhistorisch kann man daraus schliessen: Sprache hat nicht nur die Aufgabe, Informationen zu überbringen. Ohne eine präzise und nuancierte Sprache sind sowohl die Entwicklung als auch der Erhalt jeglicher Zivilisation völlig unmöglich. Und selbst wenn man auf der wörtlichen Ebene genau versteht, was das Gegenüber sagt, gibt es immer noch die Ebene „zwischen den Zeilen“.

Der deutsche Psychologe Friedemann Schultz von Thun unterscheidet gar „vier Ohren einer Botschaft“. Demnach kann man jede Aussage auf der Sachebene, der Beziehungsebene, der Selbstoffenbarungsebene oder der Appellebene verstehen. Ebenso kann jeder, der sich äussert, diese vier Ebenen in seiner Aussage verpacken. Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Komplexität menschlicher Kommunikation. Er lässt jedoch erahnen, was unserer Kultur droht, wenn sich in der nächsten Generation derartige Defizite ausbreiten, wie sie die KKH aufdeckt.

Fehlen uns die Worte?

Was also kann man tun, um möglichst schon im Vorhinein Abhilfe zu schaffen? Nun, ein Blick auf die von der KKH genannten, oben aufgelisteten Ursachen zeigt Handlungsfelder auf. Regelmässige, intensive Gespräche in der Familie helfen ebenso wie die Begrenzung der Bildschirmzeit. Wird es deutlich, dass ein Kind in der Sprachentwicklung zurückbleibt, ist ein Besuch beim Kinderarzt angezeigt.

KKH-Expertin Vijitha Sanjivkumar fasst zusammen: „Nutzen Sie jede Gelegenheit, um die Sprachentwicklung Ihres Kindes anzuregen, lesen Sie je nach Alter Geschichten vor, fördern Sie das Sprechen über Handpuppen oder Rollenspiele, singen Sie gemeinsam, begleiten Sie Ihr Kind beim Medienkonsum und reden Sie über gemeinsame Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Seien Sie geduldig und hören Sie aufmerksam zu, wann immer sich Ihr Nachwuchs mitteilen möchte.“

Mit diesen Mitteln kann wohl jedes Elternpaar dafür sorgen, dass Kinderworte etwas bleiben, worüber man liebevoll schmunzelt, und kein Anlass zur Besorgnis werden. Doch wenn der Trend weiter bergab geht, sind die gesellschaftlichen Aussichten ziemlich düster – oder sollte man lieber sagen „bajacka“?