„Problemkinder halten Schulen auf Trab“, titelte die Luzerner Zeitung vor einiger Zeit. Viele Kinder seien weder kritik- noch gruppenfähig. Ein Phänomen, das inzwischen in vielen Schulen aufzutauchen scheint. Peter Ballnik kennt dieses Problem und sagt: Eine Ursache sind die fehlenden Väter. Beatrice Gall von Zukunft CH im Gespräch mit dem Psychotherapeuten über ein Tabu-Thema, das allzu oft missverstanden wird.
Zukunft CH: In Ihrem kürzlich erschienenen Buch „Vaterseelenallein“ sagen Sie, dass Kinder und Jugendliche immer verhaltensauffälliger werden und nicht mehr gemeinschaftsfähig sind. Ist das so?

Ballnik: Sowohl in meiner Praxis als Psychotherapeut sowie aus vielen Gesprächen mit Kindergärtnerinnen, Lehrern, Beratungslehrerinnen und Hortbetreuern komme ich verstärkt zu dem Schluss, dass immer mehr Kinder immer weniger in der Lage sind, in einer Gruppe mit mehreren Menschen zu kommunizieren, gut zu leben und auch zu funktionieren. Die Folge ist, dass immer weniger Gemeinschaftsgefühl in Kindergartengruppen und Schulklassen entstehen kann. Das kann so weit gehen, dass einzelne Kinder und Jugendliche so stark stören, dass an einen erträglichen Unterricht nicht mehr zu denken ist.

Zukunft CH: Woran liegt das?

Ballnik: Ich nehme immer mehr wahr, das dieser Raum, in dem Kinder die Grundlagen für die Gemeinschaftsfähigkeit entwickeln, zerfällt. Dieser Raum ist die Triade, also das Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind. Damit ein Kind gemeinschaftsfähig werden kann, braucht es jemanden, der die Zweiheit, also die Dyade Mutter-Kind, ein Stück weit auflöst. Nur so kann das Kind die Fähigkeit entwickeln, sich aus einer Zweierbeziehung zu lösen und auf einen Dritten zuzugehen. Wenn dieser Raum für die menschliche Entwicklung, also die Triade Vater – Mutter – Kind fehlt, kommt es nicht nur zu einer mangelnden Gemeinschaftsfähigkeit, es entstehen für das Kind weitere Defizite und innere Konflikte.

Zukunft CH: In der Schweiz wachsen zurzeit … Kinder ohne Vater auf. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für diese mittlerweile so verbreitete Vaterlosigkeit?

Ballnik: Die Ursachen sind vielfältig. Zum einen wird unsere Gesellschaft immer unverbindlicher, das hat sicher auch mit dem Individualismus zu tun. Vor lauter Selbstverwirklichungsbestreben des Einzelnen verlieren wir oft den Blick und damit leider auch die Energie für die Familie. Wir Menschen betrachten uns immer mehr als Einzelwesen, damit geht auch das Eingebundensein in die Familie und wohl auch ein wenig unsere Heimat verloren. Das ist ein Phänomen, das ich in meiner Praxis immer mehr beobachte. Immer mehr Menschen fehlt die innere Heimat. Was die Vaterlosigkeit betrifft, beobachte ich auch eine Spirale nach unten. Menschen, die selbst aus scheidungsbetroffenen Familien kommen oder ohne präsenten Vater aufgewachsen sind, geben diese Vaterlosigkeit an ihre Kinder weiter. So wird in Österreich zurzeit auf dem Lande jede dritte Ehe geschieden und auf dem Land sogar jede zweite.

Zukunft CH: Wird Vaterlosigkeit unterschätzt?

Ballnik: Ja. Dieser Faktor ist sehr häufig gar nicht mehr im Bewusstsein der Menschen. Wenn ich Menschen erzähle, dass ich über und für Väter schreibe, schauen sie mich oft fragend an. Sehr oft muss ich dann die Mütter einführen, damit dieser Zusammenhang überhaupt verstanden wird. Wie ich in meinem Buch „Vaterseelenallein“ ausführe, bin ich der Überzeugung, dass für viele Probleme in unserer Gesellschaft, wie Kriminalität, Gewalt, Umweltzerstörung, Terror und Amok, Mediensucht und Kinderlosigkeit, die Vaterlosigkeit eine wichtige Rolle spielt.

Zukunft CH: Wofür sind Väter besonders wichtig?

Ballnik: Väter haben für ihre Kinder ganz spezielle Aufgaben. Eine davon ist, wie bereits erwähnt, dass Väter für ihre Kinder die Wurzel für die Gemeinschaftsfähigkeit legen. Der Vater spielt für die Kinder eine Schlüsselrolle, was ihre Aggressionsbewältigung betrifft. Durch den spielerischen Kontakt mit dem Vater, v.a. durch das Raufen im Kleinkindalter, das für Mädchen zwar oft eher in Richtung Kuscheln geht, aber durchaus seine aggressiven Elemente hat, lernt das Kind einerseits seine eigenen körperlichen Grenzen wahrzunehmen, aber v.a. seine eigenen aggressiven Impulse so weit zu kontrollieren, dass es auch als Jugendlicher und Erwachsener keinen anderen Menschen körperlich verletzt. Jungen, die mit ihrem Vater durch spielerisches Raufen und Balgen gelernt haben, wo ihre eigenen und die Grenzen des anderen sind, akzeptieren beim Raufen mit anderen Jungs, wenn der andere aufgibt, sie stoppen dann die körperliche Auseinandersetzung. Haben Kinder und Jugendliche das nicht gelernt, kann es vorkommen, dass sie auch auf einen bereits wehrlos am Boden liegenden Menschen weiter eintreten, ihn schwer verletzen oder gar töten. Väter bilden für Jungen das Vorbild. Das können Sie vor allem beobachten, wenn sie so um die drei Jahre alt sind. Dann wollen Jungen meist genau so werden wie der Vater. Für Mädchen ist der Vater zwar nicht das Vorbild, das ist die gleichgeschlechtliche Mutter, aber für sie ist der Vater das erste männliche Liebesobjekt. Das können Sie auch daran erkennen, dass die meisten Mädchen, ebenfalls so mit drei bis vier Jahren, ihren Vater später heiraten wollen. So ist für Mädchen der Vater der erste männliche Lernpartner, an dem sie ihre zart beginnende Weiblichkeit ausprobieren, sie versuchen ihn zu bezirpsen und um den Finger zu wickeln. Kann der Vater das Mädchen in seiner Weiblichkeit bestätigen, dann wird es ihm später leicht fallen auf Männer zuzugehen und gleichzeitig ihre Grenzen zu wahren und zu schützen. Was für Mädchen und Jungen wichtig ist: Für beide steht der Vater für die Aussenorientierung und ist so massgeblich am Aufbau eines Gewissens beteiligt. Dieses Gewissen ist ebenfalls eine wichtige Grundlage für die Gemeinschaftsfähigkeit.

Zukunft CH: Sie erwähnen, dass es auch einen Zusammenhang mit Kriminalität gibt …

Ballnik: Der Vater ist eine wichtige Basis für die Gewissensbildung. Warum ist das so? Kinder lernen vor allem durch Imitation. Was die Eltern tun, prägt sie. Werden sie nicht durch eine männliche Bezugsperson in die Welt eingeführt, fehlt ihnen dieser Dreierschritt, schutzgebende Grenzen in der Aussenwelt – diese werden auch in der heutigen Zeit verstärkt durch den Vater gesetzt. Es fehlt das handelnde Vorbild in den Aussenbeziehungen, auch für Mädchen ist das der Vater, es bildet sich nur ein unzureichendes Gewissen. Dieses unzureichende Gewissen ist die Wurzel für Kriminalität. So haben mindestens 85 Prozent der Menschen in Gefängnissen keinen oder keinen emotional präsenten Vater erlebt. Wenn Sie die Biografien von Massenmördern oder auch Diktatoren wie Hitler oder Mussolini betrachten, fehlt ausnahmslos der emotional präsente Vater. Sehr viel Leid der Menschen könnte durch ausreichende Bevaterung verhindert werden. Nicht nur für die betroffenen Menschen selbst, auch für die ganze Gesellschaft.

Zukunft CH: Sie sind Psychotherapeut. Was war Ihr beeindruckendstes Erlebnis mit einem Vater?

Ballnik: Für mich ist faszinierend in der Arbeit mit Vätern, wenn sie ihre eigene Wichtigkeit entdecken. Wenn sie merken, dass sie nicht nur ein Beiwagen der Mutter sind, sondern eine eigene, immanent wichtige Bedeutung für ihr Kind haben. Wenn ihnen bewusst wird, dass ihre Liebe für ihr Kind, das Vertrauen, dass sie ihm geben können, ihre Zeit, ihre sicheren Grenzen und ihr Stolz auf ihr Kind die Basis für die Entwicklung ihres Kindes sind.

Zukunft CH: Wie können wir als Frauen Männer bzw. Väter unterstützen?

Ballnik: In diesem Punkt geht es für mich vor allem um lassen. Natürlich steht die Mutter dem Kind am Anfang näher als der Vater, in dieser ersten Phase braucht der Vater von der Mutter eine Art Einführung. Dann aber ist es wichtig, dass die Mütter die Andersartigkeit des Vaters akzeptieren. Und dieser väterliche Stil ist für mich immer wieder faszinierend. Beobachten Sie doch einmal auf Spielplätzen, wie verschieden Mütter und Väter mit ihren Kindern umgehen. Das Kind braucht beide Arten, die der Mutter und die des Vaters. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass diese unterschiedliche Beelterung für das Kind sehr wichtig ist.

Zukunft CH: Was raten Sie jungen Männern, um ihre Rolle als Vater richtig einzunehmen?

Ballnik: Der wichtigste Schritt ist für mich, dass Männer ihre Bedeutung als Vater erkennen. Wenn dies geschieht, bringen sie sich als Väter ein und versuchen mit der Mutter ihres Kindes ein gutes Eltern-Team zu bilden. Jungen Männern rate ich vor allem, sich auf das Abenteuer Vatersein einzulassen, vielleicht eines der letzten Abenteuer in der heutigen Zeit.

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Peter Ballnik ist Psychotherapeut in Österreich mit dem Schwerpunkt Kinder und Jugendliche. Seit mehr als 15 Jahren begleitet er in seiner Praxis Eltern, Jugendliche und Kinder nach Scheidungs- oder Trennungsfällen. Buchtipp: Peter Ballnik: „Vaterseelenallein“, adeo Verlag, Asslar, 2014

Beatrice Gall