In der Türkei wurden in der zweiten Märzwoche von Staatschef Recep Tayyip Erdogan und der Opposition die Weichen für die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 14. Mai gestellt: Erdogan rief nach dem verheerenden Erdbeben mit über 50‘000 Toten im Südosten dazu auf, alles „politische Gezänk“ zu beenden und sich voll auf den Wiederaufbau in den betroffenen Gebieten zu konzentrieren. Ein Ablenkungsmanöver vom wirtschaftlichen Niedergang mit einer über 80-prozentigen Inflation und dem Demokratiedefizit des von Erdogan geschaffenen „Präsidialstaates“ erklärt nun auch, weshalb der Staatschef am doppelten Wahltag inmitten von Ruinen und Gräbern festgehalten hat.

 

Von Heinz Gstrein

 

Weiter hinzu kommt der von Erdogan über die heimgesuchten Regionen, wo vor allem Kurden und Reste orientalischer Christen leben, verhängte Ausnahmezustand. Unter diesem wird es keine auch nur annähernd freien Wahlen geben. Das ermöglicht Manipulationen zu Lasten der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP). Erdogans Versuch, diese Bewegung für Minderheitenrechte von Kurden, armenischen und aramäischen Christen einfach verbieten zu lassen, sind am rechtsstaatlichen Restbestand unabhängiger türkischer Richter gescheitert.

 

„Nationales Lager“ der modernen Türkei

 

Immerhin haben die anhaltenden Versuche des Regimes, die HDP auszugrenzen, dazu geführt, dass die anderen Oppositionsparteien zu ihr auf Distanz gegangen sind. Davon abgesehen haben sich sechs von ihnen in einem „Nationalen Lager“ zusammengeschlossen. Dieses repräsentiert erstmals fast alle in der modernen „Türkischen Republik“ vorhandenen politischen Kräfte: Stärkste von ihnen ist die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), die aus der gleichnamigen Einheitspartei des türkischen Europäisierers Kemal Atatürk hervorgegangen ist.

 

Zwei weitere kleine, aber von angesehenen Persönlichkeiten geführte Gruppierungen sind „Gelecek“ („Er kommt!“) und die „Demokratie und Fortschrittspartei“ (DEVA) von Erdogans abgesprungenem „Wirtschaftswunderknaben“ Ali Babakan. Dieser war auch Chefunterhändler von Ankara für einen EU-Beitritt, bis er sich mit Erdogan wegen dessen inflationärer Währungspolitik 2009 überwarf. Er will nun die Türkei ökonomisch wieder auf die Füsse stellen. „Gelecek“-Parteichef Ahmet Davutoglu war Erdogans langjähriger Aussenminister, bis er dessen Zick-Zack-Kurs zwischen West und Ost nicht mehr mitmachen wollte.

 

National-islamisches Lager

 

Aus dem Lager der national-islamischen Kräfte kommen die Iyi-Parti (Gute Partei) und die Saadet Partisi, deren blumiger Name „Partei der Gottseligkeit“ bedeutet. Ihr Zentralorgan, die Milli Gazete (National-Zeitung) wurde schon 1973 gegründet und ergeht sich gern in antisemitischen, aber auch antieuropäischen Auslassungen: „Der Europäer ist ein Atheist und Götzenanbeter, ein Wucherer, Kapitalist, Sozialist, Zionist, Kommunist und Imperialist, ständig brünstig und besoffen, ehebrecherisch und materialistisch. Er hat sich dem Teufel verschrieben.“ (Millî Gazete, 24. Juli 1986).

 

Ziel der Opposition: parlamentarische Demokratie

 

Diese gewaltigen ideologischen und weltanschaulichen Unterschiede liessen sich aber durch gemeinsame Ablehnung der vom gesamten Erdogan-Clan betriebenen Korruption und Unterdrückung überbrücken. Die „vereinigte Opposition“ verspricht nach einem Wahlsieg das auf Erdogan zugeschnittene Präsidialsystem wieder in eine parlamentarische Demokratie überzuführen, generell die Allmacht des Präsidenten zu beschneiden, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit zu stärken.

 

Beinahe wären diese Gemeinsamkeiten doch zu schwach gewesen, um die Geschlossenheit der Gegner Erdogans zu gewährleisten: Am ersten Märzwochenende verliess die Parteichefin von Iyi – der immerhin zweitstärksten oppositionellen Gruppe – das „Nationale Lager“. Meral Aksener wollte sich nicht auf Kemal Kilicdaroglu von der CHP als gemeinsamen Oppositionsführer und Gegenkandidaten zu Erdogan festlegen. Dieser hochangesehene „türkische“ Gandhi sei mit 74 schon zu alt und akademisch. Sie schlug einen der beiden populären Bürgermeister von Istanbul und Ankara vor, Mehmet Imamoglu oder Mansur Yavas. Erdogan frohlockte bereits über diese „Spaltung der Opposition“, wurde aber gleich tags darauf wieder enttäuscht, als Aksener ins oppositionelle Einheitslager zurückkehrte: Ihr waren Imamoglu und Yavas als Vizepräsidenten an der Seite von Kilicdaroglu zugesichert worden.

 

Oppositionelles Trio gegen Erdogan

 

So sieht sich Erdogan in der Einsamkeit seiner Paläste gleich von einem oppositionellen Trio bedrängt. In diesem spielt Kilicdaroglu die Rolle des weisen Altpolitikers, die beiden Bürgermeister gelten wiederum als volkstümliche Lokomotiven eines Wandels vom seit 20 Jahren immer autoritärer herrschenden Staatschef. Was Erdogan jedoch als stärkste Waffe bei den breiten Massen bleibt, ist sein Islamismus. In diesem fühlen sich die einfachen Türkinnen und Türken bei aller inflationären Dürftigkeit und gerade nach dem Erdbeben noch immer geborgen.

 

Als Fundament persönlicher Frömmigkeit wäre solches Gottvertrauen die durchaus richtige Haltung. Als politisches Programm muss es aber früher oder später versagen. Der Hauptfaktor beim wirtschaftlichen Niedergang der zunächst unter Erdogan aufblühenden Türkei ist sein starres Festhalten an einer Politik der niedrigen Zinsen. Diese ist ein völlig ungeeigneter Weg, um die ausufernde Inflation in den Griff zu bringen. Doch entspricht das eben dem islamischen Zinsverbot, an das sich der türkische Staatschef zumindest annähern will. Dieses dem Islam geschuldete Wohlverhalten hat der türkischen Staatskasse jetzt aber auch fünf Milliarden Dollar Erdbebenhilfe aus Saudi-Arabien eingebracht.

 

Erdogans Leitbild: Osmanisches Reich

 

Erdogan will aber nicht wie Wahhabiten und Salafisten den Urislam erneuern. Sein Leitbild ist die islamische Türkei unter den osmanischen Sultanen. Das erklärt seine oft widersprüchliche Vorgangsweise, wenn er auf der einen Seite die Hagia Sophia vom Museum wieder zur Moschee macht – andererseits den Syrianisch-Orthodoxen in Istanbuls Vorort Bakirköy eine neue Kirche erbaut. Dort allerdings auf dem Gelände des alten Christenfriedhofs, da nach osmanischem Recht nur christlicher Grund und Boden für neue kirchliche Bauten von Gotteshäusern bis zu Schulen und Spitälern verwendet werden durfte.