Wer Erziehungsliteratur studiert, trifft auf eine Fülle von Ansätzen und Tipps, die in den meisten Fällen durchaus ihre Berechtigung haben. Vorausgesetzt, sie werden in der richtigen Dosierung angewandt. Dass es Kindern schadet, wenn wir sie verwöhnen, alle Entscheidungen für sie treffen und ihnen jedes Hindernis aus dem Weg räumen, ist offensichtlich. Doch, aufgepasst: Wer ins Gegenteil kippt, läuft Gefahr Kinder zu überfordern.
Natürlich sollen Kinder lernen, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Doch, sie haben auch ein Recht darauf, dass wir sie vor Überforderung schützen. Kinder können nur soweit Kinder sein, wie wir Erwachsenen unsere Rolle wahrnehmen. Die Kindheit ist ein Schutzraum, in dem Kinder unbeschwert träumen, spielen, wachsen und sich entfalten können, weil wir als Eltern uns um die «grossen» Themen kümmern. Wir sorgen für Essen und Kleidung, für Gesundheit, für sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten, befassen uns mit Politik und Gesellschaftsfragen, kümmern uns um die Sicherheitsfragen… das Kind muss noch nicht leisten, was zu den Pflichten eines Erwachsenen gehört.

Natürlich erweitert sich das kindliche Gesichtsfeld und kommen immer wieder neue Themen und Verantwortungen dazu. Doch es ist wichtig, dem Kind nur so viel zuzumuten, wie es auch verkraften oder leisten kann, ohne aus dem «noch Kind-sein-Dürfen» heraus zu kippen.

Muss ein Dreijähriges schon selber entscheiden, was es essen oder anziehen will? Nein, darum kümmern sich Mama oder Papa! Soll ein Sechsjähriger sich mit uns die Tagesschau ansehen? Nein, denn diese Bilder sind nicht kindgerecht und ein Sechsjähriger muss sich noch nicht mit all den Schrecken befassen, die uns Erwachsenen ja auch überfordern. Das Kind lebt noch in einer viel kleineren Welt. Und das ist gut so. Es soll sich um den gleichaltrigen Freund kümmern, der sich das Knie auf geschlagen hat; nicht um die Opfer des letzten Bombenattentats in Paris. Kinder sollen noch ein Stück Unbeschwertheit leben dürfen. Leichtigkeit und Fröhlichkeit, ohne schon die Last der Erwachsenen übernehmen zu müssen.

Zu viel Entscheidungskompetenz und ein Übermass an Information machen Kinder nicht lebenstüchtig, sondern überfordert oder ängstlich. Nicht immer zeigt sich diese Überforderung sofort. Kinder halten Einiges aus und sind Meister der Anpassung. Ob es ihnen dabei auch gut geht, ist eine andere Frage. Muss der Zehnjährige schon ganz allein entscheiden, in
welchen Sportverein er eintritt? Nein, Eltern sehen die grösseren Zusammenhänge und sollten deshalb unbedingt noch mitreden.

Wie beantworte ich die Fragen unserer Kinder?

Wie viel erkläre ich und was lasse ich weg? Einige Beispiele dazu: Meine Fünfjährige sieht beim abendlichen Gang durch die Stadt eine Prostituierte und fragt: «Mama, was macht die Frau?». Mögliche Antwort: «Sie wartet auf jemanden, denke ich.» Ich will einer Fünfjährigen noch nicht erklären, dass diese Frau ihren Körper an Männer verkauft. Wenn die Welt des Kindes noch «heil» ist, will ich sie nicht schon unnötig verletzen.

Prostitution ist kein Kindergarten-Thema. Und, wenn mein Achtjähriger fragt, was ein Terrorist ist, sage ich «Ein Terrorist ist ein Mensch, der versucht, anderen Angst zu machen, damit sie tun, was er will.» Wie sich das Kind dieses «anderen Angst machen» vorstellt, überlasse ich seiner eigenen Vorstellungskraft. Ich schildere ihm nicht, dass immer wieder Menschen geköpft und Frauen vergewaltigt werden… das löst nur Schrecken und Angst aus. Und: Nein, ich erkläre meiner kleinen Tochter noch nicht, dass in unserer Welt Kinder ausgesetzt, abgetrieben, misshandelt… werden – ich will ihr kindliches Vertrauen in die Menschen nicht unnötig erschüttern. Sie soll nicht von Ängsten geplagt werden, die sie ohne meine Informationen nicht hätte. Will mein Kind mehr wissen, darf ich auch sagen: «Du, das ist jetzt noch nicht dran, das erkläre ich dir, wenn Du älter bist.»

Kindliche Unbeschwertheit und kindliches Vertrauen in die Welt und in die Menschen sind wichtige Bausteine für eine gesunde Entwicklung. Natürlich soll unser Kind lernen, sich auch mit den dunklen Seiten des Lebens auseinander zu setzen. Doch das muss in kleinen, verkraftbaren Portionen geschehen. «Alles hat seine Zeit», meint dazu der weise Salomo. Fragt sich nur, weshalb es die Erwachsenen oft so eilig haben… Gönnen Sie Ihrem Kind eine möglichst unbeschwerte Kindheit – erwachsen-Sein kann es noch ein ganzes Leben lang!

Regula Lehmann