Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) wurde vor 75 Jahren am 10. Dezember 1948 feierlich verkündet. Seither galten diese – zumindest im Westen –als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Doch wie haben sich die Menschenrechte seither entwickelt? Wo stehen sie heute?

Von Ralph Studer

Im Zentrum der damaligen Ausarbeitung der AEMR standen zwei grosse Denkströmungen: Während der Philosoph Jacques Maritain im Wesentlichen die christlich-naturrechtliche Denkweise vertrat, stand ihm im Forscher, Freidenker und Transhumanisten Julian Huxley ein Vertreter der evolutionistisch-materialistischen Sichtweise gegenüber.

Denkgrundlagen der AEMR

Der christlich-naturrechtliche Ansatz in der Tradition des jüdisch-christlichen Denkens baut – in aller Kürze gesagt – auf dem Menschen als Geschöpf auf, das seine menschliche Würde von der von Gott geschaffenen Natur und seinem Schöpfer ableitet. Diese Menschenwürde sieht ihre Verwirklichung darin, dass der Mensch im Einklang mit seiner Natur lebt und die natürlichen Gegebenheiten erfüllt, wie z.B. Kinder zeugt, sie erzieht und Verantwortung übernimmt. Dabei hat der Mensch von Natur aus verschiedene Ebenen. Er ist ein lebendiges Wesen, der seine Existenz bewahren will, ein soziales Wesen, da er in Gesellschaft leben will, und ein geistiges Wesen, da er die Wahrheit erkennen will. Da die menschliche Natur Neigungen und Bedürfnisse in sich trägt, können daraus Regeln für sein Verhalten abgeleitet werden, nämlich die Moral. Folgt der Mensch seiner Natur, handelt er gut. Darin liegt das natürliche Sittengesetz, das in jedes Menschen Herz eingeschrieben ist. Aus der Beobachtung der menschlichen Natur lässt sich für die Menschenrechte z.B. das Recht auf Leben und Unversehrtheit der Person folgern.

Dazu im Gegensatz steht der evolutionistisch-materialistische Ansatz. Bei diesem trennt sich der Mensch von einem Schöpfergedanken und erklärt sich zum eigenen Urheber seiner Würde. Dieser Ideologie zufolge bringt die Materie (die Natur) das Denken (den Geist) hervor. Dies stellt den Höhepunkt des Evolutionsprozesses dar, der zu immer neuen Höhen strebt, in dem er sich vergeistigt und die Materie überwindet. Daraus entsteht eine neue Moral, die in der Unterordnung unter die Natur einen Rückfall der Menschenwürde sieht und die Evolution des Menschen auf geistiger Ebene verlangt. Der Mensch verneint demnach seine eigene Natur, die ihm gegeben und gut ist. Er will sie „überwinden“ und sich von ihr „befreien“. Diese Denkweise vertritt einen Dualismus, der Körper und Geist voneinander trennt und ihnen unterschiedliche Werte attestiert. Würde kommt danach nur dem Geist zu, nicht dem Körper. Folglich besitzt jemand, der nicht mehr denken und entscheiden kann – wie etwa ein ungeborener Mensch, ein Baby oder eine ältere Person mit Demenz – auch keine echte Würde. Im Gegensatz hätte jemand, der über viel Autonomie verfügt und über seinen eigenen Körper bestimmt, einen höheren Grad an Würde als andere.

Naturrecht oder subjektiver Wille?

Diese Kontroverse der beiden Ansätze, die für zwei völlig unterschiedliche Welt- und Menschenbilder stehen, hat massive Auswirkungen auf den Gehalt der Menschenrechte. „Im einen Fall sind sie Ausdruck des Naturrechts, im anderen ein Ausdruck des subjektiven Willens,“ so Grégor Puppinck, Jurist und Direktor des Europäischen Zentrums für Recht und Justiz (ECLJ).

Kampffeld zweier widerstreitender Welt- und Menschenbilder

Bei der Verabschiedung der AEMR 1948 bzw. etwas später bei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1950 setzte sich weder der christlich-naturrechtliche noch der evolutionistisch-materialistische Ansatz gänzlich durch. In der AEMR ist weder ein Bezug auf Gott noch auf die Natur zu finden. Trotz dieses Fehlens sind die darin enthaltenen Rechte weitgehend ein Abbild des Naturrechts, so Puppinck. Sie stehen somit im Gegensatz zu den Menschenrechten von 1789, welche einem individualistischen, anti-religiösen Menschenbild entsprachen.

Die Rechte der AEMR sind allgemeingültig und unabhängig von zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten. Sie umfassen die natürlichen Bereiche des menschlichen Lebens und den Menschen als lebendiges, soziales und geistiges Wesen: Familie, Religion, Heimatland, Beruf, Wohnung und alle Fähigkeiten, die seiner Entwicklung dienen. Das Menschenbild der AEMR berücksichtigt den Menschen als Lebewesen, der die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit benötigt, während er gleichzeitig die staatliche Obrigkeit anerkennt und in einer menschlichen Gesellschaft lebt.

Trotz der weitgehend naturrechtlichen Grundlage der AEMR waren die Menschenrechte von 1948 eine Art „Kompromisslösung“ zwischen den beiden Lagern. Den AEMR haftete deshalb von Beginn an etwas „Zweideutiges“ an, was sich mittlerweile immer deutlicher bemerkbar macht. Der Verzicht auf die Rückbindung der Menschenrechte auf einen Schöpfergott – als Ausfluss der personalen Menschennatur und seiner Gottesebenbildlichkeit –, so der Journalist Stefan Rehder, eröffnet eine Reihe von Folgeproblemen, die sich verschiedene Akteure im aktuellen Menschenrechtsdiskurs zu Nutze machen. Wo die menschliche Natur als unklar angesehen und grundsätzlich in Frage gestellt wird, können alle möglichen Rechte aus ihr herausgelesen und anschliessend interpretiert werden. Als Folge davon füllen Aktivisten bestimmter Lobbygruppen dieses Vakuum. Sie fordern aus persönlichen Vorlieben und Interessen sogenannte „neue Menschenrechte“, wie das „Recht auf Abtreibung“ oder verschiedene „sexuelle Rechte“.

Was ist der „individualistische Ansatz“?

Menschenrechte verfallen in den letzten Jahrzehnten zusehends zu subjektiven Rechten. Seit 1948 hat nach und nach eine Umgestaltung der Menschenrechte stattgefunden, die ursprünglich auf der naturrechtlich orientierten Anthropologie basierten. Der in Artikel 13 unserer Bundesverfassung (BV) und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbriefte Anspruch auf „Achtung des Privat- und Familienlebens“ hat sich immer weiter ausgedehnt, während die öffentliche Moral stetig zurückgedrängt wurde. Diese Ausweitung der Privatsphäre hat dazu geführt, dass Kritik am Privatleben der Menschen kaum mehr möglich ist und eine moralische Beurteilung im Keim erstickt wird.

Die Gesellschaft ist im Subjektivismus gefangen und weiss nicht mehr, was der Mensch und was Mann und Frau ist. Eine zweifache Entwicklung findet statt:

  • Behauptung neuer Rechte des Einzelnen („Individualrechte“)
  • Zerstörung des unsere Kultur prägenden christlichen Menschenbildes und der Gesellschaftsordnung. Dadurch löst man den Menschen aus der als „Grenzen“ und „Zwängen“ empfundenen Ordnung und Moral heraus.

Diese Reduktion des Menschen auf seinen Willen soll ihn von allem loslösen, was ihn scheinbar beschränkt: Natur, natürliche Familie, Gesellschaft, Vaterland, Religion. Dieser individualistische Ansatz lässt das Individuum entgegen aller äusserer Gegebenheiten, gegen jegliche Erfahrung der Menschheit und dem wissenschaftlichen Kenntnisstand eine eigene „subjektive Wahrheit“ definieren. Nicht mehr Gott, Natur, Moral oder Ordnung sind die Richtschnur für die Wahrheit über das Individuum, sondern das, was der Einzelmensch über sich selbst sagt.

Die AEMR von 1948 waren noch Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen. Heute, nach dem individualistischen Ansatz, sind sie das Mittel, um sich von der Natur und von Gott zu befreien. Durch diese Umgestaltung der Menschenrechte leitet der Mensch seine Würde aus sich selbst ab. Das Individuum sieht sich nicht mehr als Teil einer Ordnung. Somit verfällt auch jegliche Moral. Es steht ausserhalb jeglicher Ordnung und trägt daher seine Moral in sich. Wenn keine Moral und Ordnung mehr bestehen, gibt es z.B. auch keinen Grund mehr, die natürliche Familie von Vater, Mutter und Kind zu privilegieren.

Diese Entwicklung ist auch an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) erkennbar. So hat er im Jahre 2002 die Selbstbestimmung als „wichtigen Grundsatz, der der Auslegung der Garantien des Art. 8 EMRK [Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens] zugrunde liegt“, eingestuft. Nicht mehr das Leben nach der menschlichen Natur legitimiert die menschlichen Handlungen, sondern die Autonomie des Individuums ist die neue Quelle von Legitimation, losgelöst von jeglicher Ordnung und Moral. Die Ausweitung der Privatsphäre und als Folge eine Privatisierung der Moral führen dazu, dass öffentliche Normen, welche dem Schutz der Menschenwürde dienen, weiter zurückgedrängt werden. Die Folge: Private Wünsche und Begehrlichkeiten aller Art relativieren die Rechtsordnung und bislang verbotene Handlungen – wie Abtreibung und Euthanasie – werden dem privaten Bereich zugeordnet und legalisiert. Entsprechende Verbote stehen deshalb in Gefahr, als unberechtigte Eingriffe ins Recht auf Privatleben des Einzelnen taxiert zu werden.

Diese ausufernde Rechtsprechung des EGMR hat auch Auswirkungen auf die Schweiz und ihre Verfassung. Mit dem Beitritt zum Europarat im Jahr 1963 und der Ratifizierung der EMRK 1974 sind die Grundrechte der EMRK verbindlich und ebenso unmittelbar anwendbar wie die Grundrechte der Bundesverfassung.

Das Gleichheitsprinzip und der „entkleidete Mensch“

Neben der Ausweitung des Privatlebens und der Betonung des subjektiven Willens des Menschen hat ein zweites Prinzip in Recht und Politik Einzug gehalten: die „Gleichheit“ (bzw. Gleichmacherei). Nach dieser Denkweise liegt der Kern aller Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und zwischenmenschlichen Machtverhältnisse in Merkmalen wie Geschlecht und Rasse. Daher werden alle äusseren Unterschiede geleugnet und sogar die Erwähnung biologischer Sachverhalte (z.B. dass nur Frauen Kinder zur Welt bringen können) wird bereits als Diskriminierung abgelehnt.

Dies verdeutlicht auch, warum die härtesten Gefechte auf dem politischen und gesellschaftlichen Schlachtfeld im Bereich der Rasse/Hautfarbe und des Geschlechts gefochten werden (vgl. hierzu die an Einfluss gewinnende „Woke-Bewegung“). Aber auch andere auffällige Gegebenheiten wie Muttersprache, Religion, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Besitz, Stand, genetische Merkmale, Behinderungen, Alter, sexuelle Orientierung sind auszublenden, um jenseits der Person nur noch den „Menschen“ zu sehen.

Um all diese aus der Materie fliessenden Unterschiede und Determinismen möglichst radikal zu beseitigen, kommt den Menschenrechten gegenwärtig die Funktion einer „Befreiung“ zu. Denkt man den individualistischen Ansatz zu Ende, bleibt von der Person nichts mehr übrig. Alle Merkmale wie Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Religion, Alter usw. sind weggefallen. Jurist Grégor Puppinck bemerkt hierzu treffend: „Dieses unpersönliche Menschenwesen ist nun also das Herzstück der Identität, der Geist, der an der universellen Menschenwürde teilhat. (…) Er ist der Idealtyp des Individuums: ein von Fleisch und Blut losgelöstes, unbestimmtes Wesen, das, beinahe zu einem Nichts reduziert, allein auf der geistigen Ebene leben soll. (…) Das wahre Selbst des Individuums ist sein Geist, seine Subjektivität – dies ist nach der atheistisch-materialistischen Weltanschauung der Ausdruck seines Menschseins, Ursprung und Grund seiner Menschenwürde.“

Man fragt sich, warum dieses von allem entkleidete Wesen „Mensch“ das Ziel sein kann. Vor dem Hintergrund eines allfälligen Weltbürgertums ergibt jedoch ein so übersteigerter und falscher Gleichheitsgedanke durchaus Sinn: Der nationale Staatsbürger lebt in Bindungen zu seiner Familie, zur Landesgeschichte und Sprache. Der „Weltbürger“ lehnt diese Beziehungen und Bindungen, diese Zugehörigkeiten ab. Eine Person, die sich mit ihrem Geist identifiziert, sieht sich als transzendentes Wesen und hält sich daher auch für universal, souverän und gleich. Ja, dieser Prozess der „Entpersonalisierung des Individuums“ ist notwendig für die Erlangung der beabsichtigen Gleichheit. Mit Vernunft betrachtet handelt es sich hierbei um den wohl grössten und gravierendsten Selbstbetrug in der Menschheitsgeschichte.

Die transhumanen Rechte sind nicht mehr weit

Die vor allem Ende des 20. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung zu individualistischen Rechten hat zur Folge, dass etliche heute geltende Menschenrechte im Widerspruch zur Natur stehen. Es herrscht zusehends eine Ideologie vor, die einen Dualismus (Trennung) zwischen Geist und Körper propagiert. Diese Entwicklung ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen und führt bereits zur nächsten Ebene der Menschenrechte, den „transhumanen Rechten“. Der Transhumanismus, dessen Bezeichnung auf den bereits in erwähnten Biologen und Eugeniker Julian Huxley zurückgeht, wird zusehends in unserer Gesellschaft diskutiert und in Büchern, die mittlerweile zu Beststellern geworden sind, befürwortet. Exemplarisch sei hier auf das Buch des einflussreichen Historikers und WEF-Beraters Yuval Harari „Homo Deus – eine Geschichte von Morgen“ verwiesen.

Während die individualistischen Rechte gegen die Natur gerichtet sind und sie sogar verneinen, gehen die transhumanen Rechte noch weit darüber hinaus. Sie wollen die Natur umwandeln, überwinden und überschreiten. Die individualistischen Rechte sollen mit den Mitteln der Technik und Wissenschaft weitergetrieben werden. Der Mensch wird zu einem Mischwesen aus „biologischer Masse“ und „technologischem Artefakt“. Der Traum von der unbegrenzten Freiheit soll durch den biotechnologischen Transhumanismus entstehen, wobei der „substanzlose Mensch mit einem technischen Kleid“ ausgestattet wird bzw. der Mensch sich neu entwirft.

Wir stehen in diesem Bereich tatsächlich an einer Zeitenwende: Die heutigen Bruchlinien verlaufen zwischen Menschen, welche die Beschränkungen und Grenzen des Menschseins akzeptieren, und denjenigen, die den Menschen als „Evolutionsprodukt“ überwinden und durch eine „Neuschöpfung“ ersetzen wollen. Wo der Mensch im Sinne der christlich-abendländischen Philosophie – vereinfacht gesagt – nicht mehr als Einheit von Körper und Geist, als körperlich-seelische Natur, gesehen wird, verschwindet jegliche Begrenzung des Menschen. Was wird damit letztlich angestrebt? Michael Stickelbroeck, Professor für Dogmatik, sagt es klar: „Entgrenzung des menschlichen Körpers durch Technologie ist das Ziel.“

Dass die Technologie massiv ins Menschsein eingreift, wird in Kauf genommen und als Fortschritt gesehen. Der „transhumane Mensch“ bzw. der „übermenschliche Mensch“ soll dank dieses technischen Eingriffs mehr an Macht gewinnen. Doch zu welchem Preis? Der Mensch erleidet einen Freiheits- und Kompetenzverlust und sein Denken und Handeln wird sich zwangsläufig ändern. Die gegenwärtige Stossrichtung birgt die reelle Gefahr, dass wesentliche Aspekte des Menschseins wie Privatsphäre, freier Wille und letztlich der Mensch als Subjekt auf der Strecke bleiben. Daraus resultiert nicht eine Höherentwicklung des Menschen, sondern eine Gesellschaft, in der das Menschliche fehlt, und die droht, unsere Freiheit und unsere Rechtsgrundlagen wie die Verfassung zu untergraben. In letzter Konsequenz, so der deutsche Philosoph und Theologe Johannes Hartl, schafft der Mensch sich selbst ab.

Diese Ausführungen lassen uns die fundamentalen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte verstehen, warum der Blick des heutigen Menschen auf seinen Körper sich dermassen verändert hat und diese politischen Entwicklungen – vor allem im Bereich Abtreibung, Euthanasie, Gender und Transsexualismus – überhaupt möglich waren. Diese „neue Moral“ ist auch verantwortlich für die neuen sexuellen Rechte, den seit 1. Januar 2022 in der Schweiz möglichen Geschlechtswechsel ohne Angabe von Gründen, und – was die Zukunft noch klar zeigen wird – für das weitere Fortschreiten des Transhumanismus.

Die Broschüre von Zukunft CH „Die Schweiz im Umbruch: Wie Freiheit und Verfassung umgewertet und verletzt werden“ legt die gegenwärtige Entwicklung der Menschenrechte ausführlicher dar. Zudem deckt sie Verfassungsbrüche der letzten Jahre und künftige Gefahren für unsere Freiheit und Verfassung auf. Bestellen Sie diese jetzt kostenfrei über das Bestellformular oder per Telefon unter +41 (0)52 268 65 00.