Ob und ab wann Kinder fremdbetreut werden sollen, ist seit Jahrzehnten der Anlass heftiger und oft stark ideologisch geprägter Debatten. Mit einer dreiteiligen Serie auf der Familienseite beleuchtet die deutsche Tagespost das Thema. Teil eins mit dem Titel Kinderbetreuung auf dem Prüfstand“ erschien am 2. Januar 2022.

Von Regula Lehmann

„Nie werde ich den Tag vergessen, als meine älteste Tochter Caroline, damals dreieinhalb Jahre, ihren ersten Kindergartentag hatte. Ihr bitterliches Weinen beim Abschied hat mich noch Stunden verfolgt“, beginnt Tagespost-Autorin Alice Pitzinger-Ryba ihren Artikel. Dass ihre Enkeltochter im September 2021 mit gerade einmal 14 Monaten in der Krabbelstube eingewöhnt wird, bricht ihr fast das Herz. Offensichtlich ist, dass rund um die Frage der externen Kinderbetreuung persönliche Erfahrungen ebenso eine Rolle spielen wie ideologische und gesellschaftliche Prägungen. Tatsache sei auch, so Pitzinger-Ryba, dass die Debatten über Kinderbetreuung oft jenseits der Realität stattfänden und ein Klischee von Familienleben hochhielten, das weder den Anforderungen des Alltags noch denen der Arbeitswelt entspreche. „Die vielbeschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die den familiären Alltag erleichtern soll, gibt es in Wirklichkeit nicht“, findet die Autorin.  Oder, wie es der deutsche „Verband Familienarbeit e.V.“ in seinem neuesten Faltblatt formuliert: „Kein Mensch kann gleichzeitig an zwei Orten anwesend und tätig sein. Da-Sein ist nicht teilbar. Die natürlichen Lebenskreise von Eltern und Kind werden durch ständige Zeitnot empfindlich gestört.“

Studien belegen Stress für Kita-Kinder

Verschiedene breitangelegte Studien zeigen, dass es für Kleinkinder unendlich viel Stress bedeutet, fünf Wochentage ganztags in einer Kinderkrippe zu verbringen. Wie man feststellen kann, ob ein Kleinkind in der Krippe unter Stress steht? Weil Kinder sehr anpassungsfähig sind, bedeutet unauffälliges Verhalten nicht in jedem Fall, dass es ihnen gut geht. Stress wird überprüft, indem man den Spiegel des Stresshormons Cortisol im Speichel misst. Die Day-Care-Cortisol-Studien in den USA Studien kamen 1998 zum Ergebnis, dass die Cortisolwerte von Kleinkindern auch bei bester Betreuungsqualität stark erhöht waren. Dieselben Ergebnisse erbrachte 2006 die Metaanalyse von neun Studien der niederländischen Psychologen Harriet J. Vermeer und Marinus van IJzendoorn. Krippenbetreuung stellt laut diesen für die Mehrheit der Kinder einer hohen Anstrengung dar. Betroffene Kleinkinder, so die Studie, wiesen eine chronisch zu hohe Stressbelastung auf, wie sie beispielsweise bei Spitzenmanagern zu finden sei.

Auch die multivariate Studie, die Margit Averdijk vom Institut für Soziologie in Zürich an 1000 Kindern durchführte, kam 2011 zu den gleichen Resultaten. Volksschulkinder mit früher Krippenerfahrung neigten laut Averdijk zu depressiven und aggressiven Verhaltensauffälligkeiten. Für den kanadischen Entwicklungsforscher Gordon Neufeld stellt die vorzeitige Trennung eines der schwerwiegendsten, seelischen Traumata dar, auf das manche Kinder mit Verhärtung, andere mit Unverbindlichkeit reagieren würden. Bei Verhärtung gestatte der Mensch sich keine tiefen Gefühle mehr, um nicht erneut verletzt zu werden, bei Unverbindlichkeit keine Nähe, um nicht wieder durch eine Trennung verletzt zu werden.

Überlastung vs. Bonding

Offensichtlich ist, dass die vielgepriesene Family-Work Balance in vielen Fällen ein unrealistisches Wunschgebilde darstellt. Um moderne Gleichheitsideale zu verwirklichen und den Bedarf der Wirtschaft zu decken, werden viele Frauen und Mütter in die Überlastung getrieben. Die persönliche Work-Life-Balance bleibt dabei oft ebenso auf der Strecke wie das Wohl der Kinder oder die Paarbeziehung. Noch nie wurde rund um Geburt, Wochenbett und Säuglingsphase so viel ins sogenannte „Bonding“ investiert. Diese innige Bindung zugunsten von Ideologie oder Berufstätigkeit vorzeitig wieder zu „zerreissen“, widerspricht jeder Logik. Solange ein Kind die Bindung nicht eigenständig aufrechterhalten kann, gehört es, wie es die bekannte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christa Meves in ihrem „Kita-Slogan“ formuliert hat, wo immer möglich ans Herz oder die Hand oder zumindest ins Blickfeld von Mama und Papa, mit denen es seit der Schwangerschaft eng verbunden ist. Wichtiger als „neue“ Familienmodelle sind „menschengerechte“ Modelle, die den tiefen Bedürfnissen von Kindern und Eltern Vorrang gegenüber Wirtschaft und Ideologien geben.

Zum Kita-Slogan von Christa Meves siehe Beitrag: www.zukunft-ch.ch/meves-kita-slogan