Schlagzeilen von März 2010 laut offiziellen Polizeiberichten: „Das Jugendgericht des Kantons Waadt hat am vergangenen 12. März den Minderjährigen, welcher einen jungen Mann auf der Promenade von Montbenon in Lausanne getötet hatte, zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt“, „St. Gallen: Linienbus erneut mit Wurfgeschoss getroffen – Scheibe zertrümmert – Zeugenaufruf der Kapo“, „Heerbrugg: Nächtliche Jugendgewalt – Durch Fusskick mitten ins Gesicht und einen Faustschlag brutal verletzt“. Die Reihe liesse sich beliebig fortsetzen. Was ist los mit unserer Gesellschaft? Ist alles ausser Rand und Band geraten? Muss man jedem Jugendlichen misstrauen, dem man heute auf der Strasse begegnet?
Aus einem SF-Beitrag zum Thema Jugendgewalt vom 24.08.2009: „Das Kriminologische Institut der Universität Zürich befragte im Auftrag des Kantons St. Gallen 5‘200 Jugendliche aus 338 Klassen aller Schultypen des dritten Oberstufenschuljahrs. Gemäss dieser repräsentativen Studie sind Gewalterfahrungen unter Jugendlichen weit verbreitet und um ein Vielfaches höher, als dies aus Polizeistatistiken hervorgeht. 26 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal ein Gewaltdelikt begangen zu haben. 29 Prozent wurden schon einmal Opfer von krimineller Gewalt.“

Nimmt man die Studie „Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich des Pädagogischen Instituts der Uni Zürich“ vom Jahr 2008 zur Hand, entsteht ein sehr differenziertes Bild über die Jugendgewalt und Kriminalität: Die untersuchten Varianten der Gewaltart wie z.B. Entwicklung der schweren Gewaltdelikte, der Drohungen, Nötigungen und Erpressungen und von Raub und Entreissdiebstahl zeigen alle einen sprunghaften Anstieg der Straftaten seit ca. 1998, und zwar in den Altersgruppen der 12- bis 17- und 18- bis 24-Jährigen.

Wichtige Faktoren: Migrationshintergrund, Drogen, Alkohol

Auf alle Details dieser Untersuchungen kann hier nicht eingegangen werden. Es sollen aber die wichtigsten Trends aufgezeigt werden. Interessant ist übrigens, dass die Ursachenforscher in Deutschland und der Schweiz zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Demnach beeinflussen folgende Faktoren die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen:

• Jugendliche Gewalttäter mit Migrationshintergrund sind häufiger an Gewalttaten beteiligt als Jugendliche anderer Bevölkerungsgruppen.
• Drogen und Alkohol spielen bei der Ausübung von Gewalttaten eine signifikante Rolle.
• Jugendliche, die Schule und Bildung schätzen, sind weniger an Gewalttaten beteiligt.
• Die Dunkelziffer im Bereich der Jugendkriminalität ist sehr gross wegen der Angst der Opfer, Anzeige zu erstatten. Dadurch wird die Gewaltbereitschaft geschürt.
• Das Freizeitverhalten von Jugendlichen (soziales Netzwerk, Interessen, Arten der Freizeitgestaltung, Medienkonsum usw.) beeinflusst die Gewaltbereitschaft.
• Volksspezifische Einstellungen (Kultur, Religion, Nationalitätshintergrund usw.) der Eltern zur Frage der Gewaltanwendung beeinflussen die Gewaltbereitschaft ihrer Kinder.
• Die Anwendung von Gewalt durch die Eltern an ihren Kindern bis zum zwölften Lebensjahr beeinflusst die Bereitschaft der Jugendlichen, ihrerseits Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Bedürfnisse einzusetzen.
• Der sozioökonomische Status (schwache Bildung und Einkommensverhältnisse, kulturelle Legitimierung und Befürwortung von Gewalt als legitimes Durchsetzungsmittel) spielt von allen Ursachen die grösste Rolle in der Anwendung von Gewalt durch Jugendliche.

Rat der Experten: Prävention, Repression und Bestrafung

Und was sagen die Experten zur Bekämpfung der Jugendgewalt? Die Vorschläge lassen sich in folgenden Empfehlungen zusammenfassen:

1. Der Medienkonsum der Jugendlichen muss in frühstem Alter begleitet und kontrolliert werden: Fast 50 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren haben eine Multimediastation (PC, TV, Spielkonsole usw.) in ihrem Zimmer, wovon 35 Prozent ungehindert das Internet aufsuchen können. Die Gefahr, dass sie sich mit nicht altersgemässen Inhalten befassen, ist gross.

2. Elterliche Befähigungen sollen gestärkt werden: Die Stärkung der elterlichen Kompetenz und die Unterstützung überforderter Eltern durch den Staat sollte ein besonderes Gewicht erhalten.

3. Präventionsmassnahmen ausbauen: Ansetzen sollte die Prävention bei den wichtigsten Risikofaktoren. Dazu gehören das rechtzeitige Behandeln von auffälligem Verhalten, Integrations- und Partizipationsförderung der sozial Schwächeren und der Migranten sowie Massnahmen gegen zu frühen Alkohol- und Drogenkonsum.

4. Förderung der Anzeigebereitschaft der Opfer und Massnahmen zu deren Schutz: Nur ca. 10 Prozent der Gewalttaten von Jugendlichen werden überhaupt zur Anzeige gebracht. Dies führt zur Begünstigung von weiteren Straftaten, weil eine Strafverfolgung nicht zu befürchten ist. Die Zivilcourage trägt zur Eindämmung der Jugendkriminalität bei. Straftaten von Jugendlichen sind nicht als „Bagatellen“ einzustufen, sondern ernst zu nehmen.

5. Repression und Bestrafung sollen konsequent nach Massgabe der Gesetze ausgeschöpft werden: Die Empfehlungen sehen auch die Bestrafung und Abschreckung durch den Staat als sinnvoll und wirkungsvoll für die Bekämpfung der Jugendkriminalität an.

So lobenswert die Empfehlungen der Experten auch sein mögen, so gibt es doch einen grossen Kritikpunkt: Wie sollen psychosoziale Massnahmen und rechtsstaatliche Abschreckung wirken, wenn sie nicht mit einem klar definierbaren Wertesystem verbunden sind? Denn was die Jugendlichen eigentlich suchen, ist Orientierung – Orientierung an definierbaren, verbindlichen und vor allem durch die Erwachsenen „gelebten“ Werten.

Jugendliche erwarten Richtungsweisung

Welche Werte aber sind in der Schweiz heute überhaupt verbindlich? Haben diese Werte tiefe Wurzeln in der Kultur, in der Religion, in der sozialen Gerechtigkeit, im sozialen „Miteinander“, in der Barmherzigkeit und Anteilnahme am Schicksal eines jeden Bürgers usw.? Die Psychologen, die Soziologen, die Pädagogen, die Jugendämter, die Gesellschaft, die Schulen und alle anderen nicht genannten Einflussgrössen können ohne ein verbindliches Wertesystem auf Dauer nichts ausrichten. Die Menschen – und erst Recht die Jugendlichen – sind nicht dumm und spüren das Vakuum in einer Gesellschaft, die keine geistigen Ideale mehr vertritt, sondern nur den Materialismus. All die „wertfreien“ Bemühungen der Institutionen müssen doch von den Jugendlichen als inhaltslose Alibiübungen empfunden werden, weil die Jugendlichen eigentlich Richtungsweisung, geistige Führung und persönliche Stellungnahme der Erwachsenen erwarten.

Wer also gibt den Jugendlichen die Antwort auf ihre Fragen nach verbindlichen Werten? Wenn wir uns eine friedfertige, sozial gerechte, leistungsfähige Gesellschaft wünschen, die den sozial Schwachen unterstützt, müssen wir auch ein entsprechendes Wertesystem vertreten und verwirklichen. Wenn wir erlauben, dass sich andere Wertesysteme ausbreiten, die auf Gewalt, Unterdrückung und Ausgrenzung usw. aufgebaut sind, werden wir die bitteren Folgen davon tragen müssen. Die oben erwähnten Massnahmen der Experten werden nur dann Wurzeln schlagen, wenn sie mit einer spürbaren, erfahrbaren „Geisteshaltung“ verbunden sind. Wenn die Jugend die Werte der Gesellschaft und ihrer Institutionen nicht als nachahmenswert erlebt, sind alle Bemühungen umsonst und werden zur Farce.

Was wollen wir für die Zukunft unserer Kinder?

Es gibt keine „Wertefreiheit“, wie die Vertreter der Sozialwissenschaften propagieren. Dies ist eine gefährliche Utopie der humanistischen Philosophie und Bildung, von der man endgültig Abschied nehmen sollte, bevor noch Schlimmeres geschieht. Ein geistiges „Wertevakuum“ wird von einem anderen Wertesystem gefüllt. So einfach ist es. Wer dies nicht begreift, ist blind auf beiden Augen. Werte wie Barmherzigkeit, soziales Miteinander, Schutz des Schwächeren usw. sind in der christlichen Ethik stark verwurzelt und haben wesentlich zu unserem heutigen „Sozialstaat“ beigetragen. Vermittelt werden diese Werte vor allem in unseren Familien, weshalb ihnen innerhalb unserer Gesellschaft eine tragende Rolle zukommt und weshalb sie eines besonderen Schutzes durch den Staat bedürfen. Nur wenn wir als Gesellschaft dieses Wertesystem kommunizieren und im Alltag leben, werden wir die Jugendlichen in unserem Land davon überzeugen, dass es sich lohnt, in Frieden miteinander zu leben.
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Dr. Richard Keller ist verheiratet und setzt sich für die Erneuerung der praktischen christlichen Ethik in Europa ein. Er war Geschäftsleitungsmitglied
mehrerer Firmen im In- und Ausland, Direktoriumsmitglied einer Privatklinik sowie Psychotherapeut in eigener Praxis. Dr. Keller ist Verfasser zahlreicher Beiträge in Tageszeitungen
und Zeitschriften.

Von Dr. Richard Keller