„Digitalisierung von Schule und Alltag – ein zweischneidiges Schwert“. Unter diesem Titel fand am 9. März 2022 in der Fachhochschule Ostschweiz in St. Gallen ein Vortrag für Pädagogen und Interessierte statt. Digitalisierung ist nicht ein Allheilmittel, sondern verlangt nach gut überlegtem Einsatz im Unterricht und Alltag. Sonst droht mehr Schaden als Nutzen, so das Fazit der Veranstaltung.

Von Ralph Studer

IT-Bildungsoffensiven an Schulen, so weit das Auge reicht: Bildungspolitiker und Wirtschaft sind sich einig, die Digitalisierung soll weiter vorangetrieben werden, die Bedürfnisse der Wirtschaft erfüllen und die Konkurrenzfähigkeit stärken. Die Schüler sollen als Gewinner der Digitalisierung hervorgehen, so die Überzeugung (vgl. Die Debatte über das digitale Klassenzimmer steht erst am Anfang, Tagblatt), aufgerufen am 17.3.2022).

Während in Politik und Medien stets die Vorteile einer Digitalisierung betont werden, erhält dieses Bild Brüche, wirft man einen genaueren Blick auf den Einsatz der digitalen Medien im Unterricht. Prof. Dr. Klaus Zierer von der Universität Augsburg zeigte in seinem Referat verschiedene Aspekte auf, die für die Bildungs- und Schulpolitik zentral sind. Die Schulen, so Zierer, vermitteln nicht nur Wissen und Können, sondern bilden Herz und Charakter. Was der einzelne Schüler lerne, verändere ihn als Mensch, seine Einstellung zum Leben und seine Sichtweise. So veränderten auch die digitalen Medien unser Fühlen und unsere Entwicklung.

Besonders spannend waren Zierers Ausführungen zu den Wirkungen von bestimmten Faktoren wie dem Einsatz von digitalen Medien auf den Unterricht und das Lernen. Ernüchternd hielt er fest, dass empirisch der Gesamteffekt verschiedener digitaler Medien (wie z.B. Clicher, flipped classroom) beim Unterrichtseinsatz bei 0.26 lägen, was kein ausgesprochen hoher Wert sei. Zierer gab zu bedenken, dass die Wirksamkeit der Medien weder vom Alter noch vom Fach oder der Technik abhänge, sondern das „Wie“ der Verwendung entscheidend sei. Der sinnvolle Umgang müsse erlernt werden. Interessant waren auch die Forschungsergebnisse zur analogen Mitschrift mit Papier und Bleistift im Vergleich zu Keyboard, Tablet und Smartphone. Bei Messungen konnte eine erhöhte kognitive Verarbeitung und Gehirnaktivität beim analogen Schreiben festgestellt werden, welche sich auch in besseren Leistungstests zeigte, führte Zierer aus.

Geringer messbarer Effekt der Lernleistung

Bereits im Juli 2021 äusserte Zierer in der NZZ, dass z.B. das Ablenkungspotenzial bei Tablets aufgrund der vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten zum Nachteil gereichen könne, weil sie in jedem Moment Reize setzen, etwas anderes zu tun. Der Umgang mit Tablets sei nicht per se lernförderlich, er könne auch lernhinderlich sein. Auch wenn Tablets neue Bildungsinhalte eröffne, sei das Tablet selber ein Bildungsgegenstand, dessen Gebrauch genau zu überlegen sei. Gerade deshalb verlange die Einführung eines Tablets eine kritisch-konstruktive Begleitung der Schüler, eine Miteinbeziehung der Eltern und eine Schulung der Lehrpersonen. Gemessen an den weltweit massiv gestiegenen Ausgaben für die Digitalisierung in den Schulen sei ein im Vergleich messbarer Effekt der Lernleistung nicht festzustellen, so Zierer (Das Tablet – eine zweischneidige Bildungsrevolution, NZZ, aufgerufen am 17.3.2022).

Markant sei, so führte Zierer in seinem Vortrag weiter aus, der negative Einfluss der Corona-Zeit auf die Entwicklung der Schüler. Vor allem Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern seien zurückgefallen und die psychosoziale Entwicklung habe Rückstände zu verzeichnen. Aber auch psychosomatische Krankheiten wie Depressionen hätten zugenommen. Erfolgreiches Lernen, betonte Zierer, erfordere u.a. Einsatz, Kooperation, Austausch, intensive Gespräche, Rückmeldung, positive Beziehungen und eine lernfördernde Fehlerkultur.

„Generation lebensunfähig“, so nannte der zweite Referent des Abends, Dipl. Psych. Rüdiger Maas, sein zuletzt erschienenes Buch über die aktuelle Kinder- und Jugendgeneration. Auffällig sei, so Maas, bei den heutigen Jugendlichen ein „Neo-Konventionalismus“. Diese würden weniger rebellieren und sich von ihren Eltern weniger abgrenzen. Sie bildeten keine Gegenkultur mehr, orientierten sich vermehrt am Lebensstil der Eltern und passten sich dem Mainstream an. Zugleich nähmen Frustrationstoleranz und Kreativität ab und ein Verlust an persönlichen Beziehungen sei zu beobachten. Während die Jungen in der digitalen Welt vor schnellen Entscheidungen stünden, zeigten sie im realen, analogen Leben beträchtliche Mühe, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.

Corona hat Spuren hinterlassen

Auch wenn die Digitalisierung diverse Vorteile aufweise, seien die Folgen für die junge Generation nicht zu unterschätzen. Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit, fehlende Interaktion, Abnahme der Empathie und Überforderung in Konflikten seien nur einzelne Aspekte, welche bei den Jungen zu beobachten seien, so Maas. Die letzten zwei Corona-Jahre hätten hier ihre Spuren hinterlassen: Maas wies darauf hin, dass das soziale Leben mit einem Verlust an Empathie und Wertschätzung dem Mitmenschen gegenüber weggefallen sei und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden stark abgenommen habe. Insgesamt habe die Demokratiefähigkeit stark gelitten. Als Rat gab Maas den Eltern und Lehrern mit auf den Weg, die Kinder wieder bewusst in die analoge Welt zu führen.

Bei der anschliessenden Diskussion betonten die Referenten, dass ein Verlust der Sprache als Mittel der Kommunikation und des „Face-to-face“-Kontakts bei den Heranwachsenden auch Spuren hinterlasse und sich durch das Fehlen von Interaktion und direkter Kommunikation die Gewissensbildung der Jungen zu wenig entwickeln könne.

Fazit

Als Fazit lässt sich sagen, dass eine gewisse Digitalisierung sicherlich zu begrüssen ist, jedoch bei der Anwendung von digitalen Medien in der Schule vermehrt das „Wie“ im Vordergrund stehen muss. Dabei ist zu beherzigen, dass junge Menschen bei wirklicher Bildung den Menschen als gegenüber brauchen. Zur erfolgreichen Anwendung der digitalen Medien braucht es kritisch-konstruktive Pädagogen. Eine unbedachte Form der Digitalisierung würde genau das Gegenteil des Erhofften erzielen: „keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Persönlichkeit der Lernenden durch einen Verlust der Lehrer-Schüler-Beziehung, soziale Isolation und digitale Abhängigkeit“, so Zierer (vgl. Digitale Bildung: Vernunft und Empirie helfen weiter, NZZ, aufgerufen am 17.3.2022).

Da Letzteres nicht Ziel sein sollte und darf, ist es wichtig, dass Erwachsene ihre Verantwortung gegenüber den Jungen wahrnehmen: den Kindern und Jugendlichen ein starkes Gegenüber sein, das sie anleitet, in die analoge Welt hineinführt und ihnen die notwendige Hilfestellung gibt. Ermutigung und Stärkung müssen junge Menschen erfahren, damit sie zu selbstständigen, selbstbewussten und sozialen Mitmenschen heranwachsen.