„Es hat keinen Sinn, Kinder zu erziehen, sie machen uns sowieso alles nach“, soll der deutsche Komiker und Schriftsteller Karl Valentin gesagt haben. Tatsächlich ist es so, dass Kinder sehr vieles durch Nachahmung lernen.

Von Regula Lehmann

Spiegelneuronen im Gehirn „verwerten“ Gesehenes und Erlebtes: Neugeborene ahmen Mundbewegungen nach, Babys kopieren Mimik und Tonlagen des zugewandten Gegenübers. Nicht nur Worte oder Handlungen, sondern auch Stimmungen und Lebensmuster übertragen sich auf unseren Nachwuchs. Grund genug, als Eltern dem eigenen Sein und Verhalten hohe Priorität zu geben und erst mal bei uns selbst hinzuschauen, wenn wir den Familienalltag als nervenaufreibend empfindend. In meiner eigenen Familie erlebte ich immer wieder, wie viel sich veränderte, wenn wir als Eltern erst mal unsere eigenen „Baustellen“ anschauten. Gingen wir mit einem Erziehungsproblem in die Beratung, gewinnen wir oft wertvolle Einblicke in unsere persönlichen Prägungen und Verhaltensmuster. Statt am Kind „herumzudoktern“, legten wir erst mal überhöhte Ansprüche oder tiefsitzende Ängste ab und streckten uns nach Entspannung oder neuem Vertrauen aus. Wir entdeckten in unseren Herzen versteckte Rivalitäten, Minderwert oder die unbewusste Bevorzugung einzelner Kinder; mit dem Resultat, dass sich schwieriges Verhalten unseres Nachwuchses manchmal über Nacht in Luft auflöste oder Geschwisterrivalitäten deutlich abnahmen.

Wichtig erscheint mir dabei, dass wir Fehler oder Bequemlichkeiten, die wir uns selbst selbstverständlich zugestehen, nicht bei unseren Kindern hart sanktionieren. Ein Nachbar von uns verlangte beispielsweise, dass seine Kinder ihre Velos abends die steile Treppe in den Keller hinuntertragen sollten, während er selber dies niemals tat. Solche Widersprüche verhärten Kinderherzen, fördern Widerspruch und Rebellion. Damit meine ich nicht, dass Erwachsenen und Kindern in jedem Punkt gleichgestellt sein müssen. Erwachsene dürfen Dinge, die jüngeren Kindern noch nicht zugestanden werden (können). Aber es ist heuchlerisch, wenn wir von Kindern eiserne Disziplin verlangen, während wir selbst uns ständig zwischen den Mahlzeiten „etwas gönnen“. Oder wenn wir den Medienkonsum unserer Teenager kritisieren, obwohl wir selbst pausenlos mit dem Smartphone beschäftigt sind. Auch die Frage, welche Inhalte wir auf unseren Bildschirmen konsumieren, hat Auswirkungen. Es wirkt wenig glaubhaft, Kinder vor schlechten Inhalten wie Gewalt oder Pornografie zu warnen, wenn wir uns als Erwachsene diese Dinge anschauen.

Die Aussage „was du tust, spricht so laut, dass ich nicht hören kann, was du sagst“, trifft absolut ins Schwarze. Auf Worte Taten folgen zu lassen, ist zentral, wenn es um Vorbild-Sein und Integrität geht. Es tut Kindern gut, mitzuerleben, dass auch wir als Eltern und Erziehende kontinuierlich an unserem Charakter und unserem Verhalten arbeiten und ehrlich zu Fehlverhalten stehen. Auch um Verzeihung zu bitten, Fehler zuzugeben, um Rat zu fragen und Hilfe anzunehmen lernen Kindern am leichtesten dadurch, dass wir es ihnen vormachen. Wir müssen nicht alles schon perfekt können, wir dürfen – zusammen mit unseren Kindern – weiter lernen und uns entwickeln. Vorbild zu sein bedeutet nicht, über alle menschlichen Schwächen erhaben zu sein, sondern selbstverständlich, vertrauensvoll und lernbereit vorauszugehen.