Die Schablone „Es gibt immer mehr Ehescheidungen“ ist schon längst überaltet, lässt sich aber nicht aus den Köpfen entfernen. Selbst Politiker und Journalisten repetieren das Stereotyp wie einen Glaubenssatz. Er ist aber gefährlich, wenn er als Grundlage für Gesetzesänderungen dienen soll.
„Vater-Mutter-Kind: Das war einmal“ titelte die Aargauer Zeitung am 8. April und plädierte im „Thema“ der Ausgabe für Änderungen im Ehe- und Familienrecht. Hauptbegründung: „Es gibt immer mehr Scheidungen und daher Einelternhaushalte und Patchworkfamilien“. Spontan werden die meisten Leserinnen und Leser dieser Feststellung nicht widersprochen haben, denn sie wirkt selbstverständlich – und die Folgerungen daraus, dass Gesetze ändern müssen, logisch. Nur: Die Behauptung stimmt nicht. Denn seit 2006 sinkt die Scheidungsrate auch in der Schweiz, was interessanterweise in der politischen Diskusssion kaum wahrgenommen worden ist. Fakt ist: Die Zahl der Scheidungen nimmt aktuell ab. Im Jahr 2014 von rund 17’000 auf 16’500 ab (-3.7%) laut vorläufigen Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Wenn man die Zahl der aktuellen Trennungen mit derjenigen der aktuellen Eheschliessungen vergleicht, werden noch 40,3% der Ehen geschieden. Schlagzeilen wie „jede zweite Ehe wird geschieden“ sind somit von gestern. Gerade junge Ehen sind markant stabiler als vor einer Generation, weil sich die Paare bewusster zur Heirat entschliessen. Und dennoch wird zurzeit wieder mehr geheiratet (Stand 2014: 41’200 Ehen)

Pragmatische Politik?

Das sind immer noch viel zu viele Scheidungen, aber die Politik nimmt in Anspruch, gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen pragmatisch zu sein und hat bislang Massnahmen zur Stärkung der Ehe, zum Beispiel durch einen vereinfachten Zugang zu Beratungsangeboten, abgelehnt, obwohl sie im Parlament wiederholt angeregt wurden. Umgekehrt ist nicht bekannt, wie stabil nichtregistrierte Formen des Zusammenlebens sind. So ist die Politik zwar bereit, über mehr Rechte für informelle Paare und Familien zu diskutieren, interessiert sich aber nicht dafür, wie die „Scheidungsraten“ hier sind. Bekannt sind lediglich die hohen Kosten zum Beispiel für Sozialhilfe an alleinerziehende Eltern, meistens Mütter. Nicht bekannt sind auch die sozialen und monetären Kosten von gescheiterten Ehen oder Patchworkfamilien. Die Politik braucht aber solche Zahlen, wenn sie vor der Entscheidung steht, welche Formen des Zusammenlebens in Zukunft privilegiert werden sollen – und ob die Ehe ihren privilegierten Stand verlieren soll.

Scheidungszahlen hinterfragt

Wenig Beachtung finden auch die Methoden, mit denen zum Beispiel Scheidungsquoten berechnet werden. Der Soziologe Prof. Dr. Bernhard Nauck von der Technischen Universität in Chemnitz sagte zum Beispiel 2012 bei einer Tagung der Universität Zürich: „Bei den Scheidungsziffern kommt es SEHR darauf an, was im Zähler und was im Nenner steht!“ Es macht einen Unterschied, ob die Anzahl Scheidungen in einem Berichtsjahr mit den Anzahl Ehen im gleichen Jahr verglichen wird. Oder ob man eine „ehedauerspezifische Scheidungsziffer“ errechnet. Das heisst die Anzahl der in einem Berichtsjahr geschiedenen Ehen mit den geschlossenen Ehen des Eheschliessungsjahrgangs vergleicht. Man kann auch die Anzahl Scheidungen pro 10.000 Einwohner oder die Anzahl Scheidungen pro 10.000 Ehen in Beziehung setzen. Oder man errechnet einen Koeffizienten, der auch die Anzahl Ehejahre berücksichtigt. Diese steigen zum Beispiel momentan kontinuierlich. Man kann somit mit Bernhard Nauck feststellen: Es hat noch keine Zeit gegeben, in der so viele Ehen so lange gedauert haben wie heute.“ Konkret liegt die Scheidungsquote in der Schweiz gemäss Methode 1 (Anzahl Scheidungen / Anzahl Heiraten im gleichen Jahr) bei 40,3 Prozent. Die Worthülse „Jede zweite Ehe wird geschieden“ gehört also längst abgeschafft. Noch immer enden die meisten Ehen mit dem Tod eines Partners, betont Nauck. Nauck machte auch darauf aufmerksam, dass das Scheidungsrisiko vor allem bei kinderlosen Paaren höher ist als bei Elternpaaren. Und: je mehr Kinder ein Paar hat, desto stärker sinkt das Scheidungsrisiko. Wer somit etwas für das Kindeswohl tun und dabei möglichst viele Kinder erreichen will, sollte die Ehe stärken.

(Quelle. Schweizerische Stiftung für die Familie)