Die Statistiken der letzten Jahre über die Kosten im Sozialwesen sind ernüchternd bis erschreckend. Von 1970 bis 2005 sind die Sozialausgaben von 11,2 auf 135,5 Mrd. Franken gestiegen. Die Sozialausgabenquote (Sozialausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) hat sich dabei laut eines Berichts des Verbandes der Schweizer Unternehmen „Economiesuisse“ von 11 auf 30 Prozent fast verdreifacht.
Die Studie zeigt, dass in keinem anderen Land der Welt die Sozialausgaben in den letzten 20 Jahren so ausgeweitet wurden wie in der Schweiz. Die Sozialausgaben wachsen ungebremst und überproportional. Warum? Die Schweiz hat bisher nicht als ein „armes“ Land gegolten, in welchem so viele Bedürftige und sozial benachteiligte Menschen leben. Sie zeigt sich nach Aussen hin immer noch als eines der reichsten Länder der Erde. Betrachtet man allein das Bruttosozialprodukt, stimmt das auch. Ist aber Reichtum allein ein Mass für soziale Gerechtigkeit? Sicherlich nicht.

Der Anteil der „working poor“ („arbeitenden Armen“), die gerade noch durchkommen, nimmt gemäss einer Studie ebenso zu wie der Anteil der sozial Schwachen, die ohne soziale Unterstützung durch den Staat das Existenzminimum gar nicht erreichen würden. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass die erwerbstätige Bevölkerung der zukünftigen Generationen immer mehr mit Abgaben belastet werden wird. Wenn aber der scheidende Direktor der Caritas Schweiz, Jürg Krummenacher, in einem Interview mit dem Tagesanzeiger Zürich behauptet, dass „das soziale Klima in der Schweiz vergiftet ist, die Kluft zwischen Arm und Reich grösser geworden ist“, und gleichzeitig dafür plädiert, dass der Staat seine Sozialausgaben noch mehr steigern müsse, dann sollten langsam die Warnlampen angehen.

Der Sozialstaat und der Nachwuchs

So kommt Krummenacher zu dem Schluss: „Ja, die Schweiz braucht mehr Sozialstaat. Wir müssen vor allem eine nachhaltige, präventive Sozialpolitik entwickeln. Also dort investieren, wo es sich lohnt: zum Beispiel in die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit.

[…] Noch immer fehlen Betreuungsplätze für 120 000 Kinder. Dabei böten sie eine gute Gelegenheit, um Bildungsdefizite bei sozial benachteiligten Kindern auszugleichen“. Damit hat er zwar den Kern der Sache festgestellt, aber die falsche Schlussfolgerung daraus gezogen. Die Desintegration des sozialen Gefüges in unserem Land und die explodierenden Sozialausgaben sind eine direkte Folge der Desintegration der Familienstrukturen. Sein pragmatischer Ansatz ist, die Kindererziehung und die soziale Bildung, die früher die Familie übernommen hat, an den Staat zu delegieren. In der Wirtschaft nennt man das „Outsourcing“. Anstatt selber im Betrieb eine Dienstleistung aufzubauen, kauft man sie auf dem freien Markt ein. Das Ziel des „Outsourcing“ ist natürlich, dass der Unternehmer mit weniger finanziellen Belastungen auskommt als wenn er selber etwas im Unternehmen betreiben würde.

Aber oft ist das Outsourcing gar nicht billiger. Ganz im Gegenteil. Auf die katastrophale Entwicklung im Sozialstaat Schweiz angewendet wird das „Outsourcing“ der Kindererziehung, der sozialen Bildung, der Vermittlung von ethischen-moralischen Werten, der liebevollen Zuwendung usw. an den Staat übertragen, der diese Last weder finanziell noch ideell zu tragen vermag. Denn vom Staat angestellte Erzieher können niemals den Kindern die Zuwendung geben, die sie in ihren Familien zu Recht erwarten dürfen. Erzieher sind Angestellte und keine „Ersatzmütter oder -väter“. Sie sind auch nicht allein für ein bestimmtes Kind, sondern für viele Kinder da. Der beste Pädagoge wäre völlig überfordert, würde man von ihm abverlangen, die Eltern bzw. die Sozialstruktur der Familie in allen Schattierungen zu ersetzen.

Die an den Staat übertragene Kinder- und Jugendbetreuung bzw. Erziehung ist nur eine Facette in der Ursachenforschung für die soziale Desintegration in der Bevölkerung. Andere erhebliche und kaum bezifferbare Ausgaben entstehen im Bereich der medizinischen, psychiatrischen, sozialpädagogischen bzw. psychologischen Behandlung von zerrütteten Familien und deren Kindern. Die Dunkelziffer bei den Ausgaben auf Kantons- und Bundesebenen sowie bei den Krankenkassen ist sehr hoch und schlecht erfasst, weil diese Kosten oft auf verschiedene „Töpfe“ in dem Sozialgeflecht des Staates verteilt sind und umfassende Untersuchungen der Ausgaben fehlen.

Scheidungen und ihre Folgen

Trennung und Scheidung gehören neben Arbeitslosigkeit, Krankheit und niedriger Bildung zu den grossen wirtschaftlichen Risikofaktoren. Für die betroffenen Individuen wie auch für den Staat verursachen Trennung und Scheidung hohe Kosten und stellen die Solidargemeinschaft vor gravierende finanzielle und soziale Probleme. Trennung und Scheidung verdoppeln das Armutsrisiko von Alleinerziehenden. Zwei Drittel der Frauen, die Anspruch auf Trennungsunterhalt haben, erhalten keine Zahlungen. Noch schlechter geht es den (wenigen) anspruchsberechtigten Männern: Hier sind es rund 90 Prozent, die kein Geld bekommen. Die grosse Mehrheit der Zahlungspflichtigen wäre jedoch leistungsfähig.

So muss der Staat immer mehr als Folge des ethischen und moralischen Verfalls der Gesellschaft mit hohem finanziellem Engagement kompensierend einwirken, um die grösste Not zu lindern. Dazu kommen die psychischen Folgen für Scheidungskinder, die weitere Kosten verursachen. Denn eine Scheidung zeigt bei den meisten Kindern ungünstige Effekte, die mit Anpassungsstörungen bis zu zwei Jahren und länger einhergehen. Diese können sich internalisierend (z.B. depressive Verstimmungen, Angststörungen) oder externalisierend (aggressives, oppositionelles, hyperaktives, delinquentes Verhalten) zeigen.

Welche Auswege aus dem Dilemma?

Die Instrumente der sozialen Sicherheit in der Schweiz verfolgen das verfassungsmässige Ziel, dass jedem Einwohner, losgelöst von sozialer Stellung, beruflicher Tätigkeit oder Alter in allen Wechselfällen des Lebens, der Lebensunterhalt angemessen garantiert ist. Sie enthalten dabei – im Gegensatz zum Bereich der Privatversicherungen – nicht nur Vorkehrungen zur Absicherung im Schadensfall, sondern auch Elemente des sozialen Ausgleichs (Solidaritätsprinzip, Umverteilung). Die Politik, die zur Verankerung der sozialen Sicherheit in der Verfassung führte, ging aber von der Voraussetzung aus, dass die Schweiz über ein gut funktionierendes ethisch-moralisches Wertesystem verfügt und dass es in der Bevölkerung einen Konsens darüber gäbe, welche Werte hier eine Rolle spielen. Dieses vorausgesetzte Wertesystem christlicher Prägung lieferte das Fundament für ein gut funktionierendes staatliches Sozialsystem, welches als Ergänzung und nicht als Ersatz für das etablierte Netz an sozialen Hilfeleistungen gedacht war. Im Gegensatz zur lähmenden Wirkung der Sozialisierung stärkte dieses christliche Wertesystem die Eigenverantwortlichkeit der Menschen.

Wertezerfall und Vernichtung der sozialen Werke

Durch den Wertezerfall, welche die 68er-Bewegung einleitete und die heute durch die „Multi-Kulti“-Gesellschaft abgelöst wird, zerfielen genau die Sozialstrukturen, auf die die Politik sich damals stützte, als sie die Sozialgesetze schuf. Die Solidargemeinschaft wurde durch den Ruf nach dem „neutralen“ anonymen Staat ersetzt. Die Gesellschaft delegierte alle sozialen Dienste an staatliche Institutionen und meinte, wenn sie nur genügend Abgaben zahle, käme sie daran vorbei, für die Folgen des Zerfalls der Solidargemeinschaft die Konsequenzen tragen zu müssen. Weit gefehlt, wie wir heute wissen.

Die immer grösser werdenden Folgen des Zerfalls der sozialen Strukturen wie Ehe, Familie, Grossfamilie, Dorfgemeinschaft, Solidarität in der politischen Gemeinde usw. können nicht mehr auf den Staat abgewälzt werden. Die Staatsausgaben im Sozialbereich explodieren, und die psychosozialen und ökonomischen Folgen des Zerfalls sind trotzdem nicht in den Griff zu bekommen. Der Staat kann lediglich die schlimmste materielle Not abfedern. Er ist aber nicht in der Lage, die persönliche Verantwortung des Einzelnen und einer gut funktionierenden privaten Solidargemeinschaft zu ersetzen. Die Vereinsamung, die psychosozialen Erkrankungen (Depression ist bereits eine Volkskrankheit in der Schweiz), die Verwahrlosung (oft eine Ursache der zunehmenden Verrohung und Gewalttätigkeit in der Gesellschaft), die „Minimalerziehung“ ohne ethisch-moralisches Fundament, die Überforderung des Schulsystems durch Vernachlässigung der Erziehung durch die Eltern usw. sind das Ergebnis einer Gesellschaft, in der soziale Gleichgültigkeit und Egoismus christliche Ethik und Nächstenliebe ersetzt haben.

Was kann uns in dieser Lage wirklich helfen? Die Rezeptur heisst Erneuerung des Wertesystems. In keinem anderen Wertesystem auf der Welt gibt es eine bessere Alternative, die wachsende Weltbevölkerung angemessen und menschwürdig zu regieren als auf der Grundlage von Nächstenliebe, Solidarität und Barmherzigkeit, welche im christlichen Gedankengut tief verwurzelt sind. Diese Werte dürfen allerdings nicht als ein Freipass, die „hohle“ Hand zu machen, verstanden werden, sondern als Ermutigung und Hilfe zur Selbsthilfe, das Leben langfristig wieder in die eigene Hand zu nehmen.

Die notwendigen Inhalte eines solchen erneuerten Wertesystems wären:

1. Den Schutz der Ehe zwischen Mann und Frau und der Familie als vorrangige Priorität in Politik und Gesellschaft zu erkennen.

2. Die Förderung privater oder kirchlicher Hilfsorganisationen, karitativer Stiftungen und die Wohltätigkeit aus privaten Initiativen durch entsprechende Gesetze und Verordnungen.

3. Die Förderung einer gemeindenahen Sozialpolitik, welche die Bevölkerung zu einer grösseren Hilfsbereitschaft ermutigt.

4. Aktive politische Richtlinien zur Förderung christlich-ethischer Werte in der Bevölkerung, vor allem in den Gemeinden. Es geht darum, dass an der Basis der Bevölkerung ein neues Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Werten und sozialen Missständen entsteht und dass die Bevölkerung in die Diskussion über soziale Missstände in ihren Gemeinden mehr einbezogen wird.

5. Eine politisch und gesamtgesellschaftlich getragene Kultur der „Nachbarschaftshilfe“ (anstatt einer „Vollkasko-Mentalität“ mit Hilfe des Staates) mit persönlicher Anteilnahme an dem Schicksal des anderen.

Der Sozialstaat Schweiz ist langsam aber sicher am Ende seiner Rolle als „Retter in der Not“ oder Auffangbehälter für den sozial-ethischen Zerfall in der Gesellschaft angelangt. Die Schweiz muss sich von Grund auf durch die Schaffung eines neuen „Wertebewusstseins“ erneuern, welches auf dem Fundament einer direkt spürbaren Solidargemeinschaft gegründet ist. Gelingt dies nicht, droht ein Zusammenbrechen des sozialen Friedens. Die soziale Sicherheit und der soziale Frieden beginnt zu Hause in der Familie, beginnt in der aktiven Rolle als Helfer, wo Not herrscht, beginnt bei den politischen Parteien, die Gesetz machen, welche Werte fördern und private Initiativen finanziell unterstützen, beginnt dort, wo alle Gesellschaftsschichten sich als solidarisch miteinander begreifen. Dies gelingt nur, wenn es wieder eine Überstimmung in der Gesellschaft darüber gibt, dass es sich lohnt, für dieses Wertesystem einzustehen.

Von Dr. Richard Keller