Streit unter Geschwistern gehört in den meisten Familien zum Alltagsgeschäft und viele Eltern fragen sich verzweifelt, warum ihre Kinder nicht einfach mal „ein Herz und eine Seele“ sein können. Wer akzeptiert, dass Auseinandersetzungen (sich auseinander setzen) durchaus ihren Sinn haben und nicht per se immer verhindert werden sollten, kann die Sache gelassener angehen.

Von Regula Lehmann

Das Austragen von Konflikten und der Umgang mit Aggressionen muss gelernt werden und dabei dürfen und werden auch Fehler passieren. Nicht immer ist es empfehlenswert, sich als Eltern in Streitigkeiten einzumischen. Kinder können und sollen lernen, Konflikte ohne elterlichen Beistand zu lösen und Eltern tun gut daran, aufmerksam zu beobachten, was abgeht, bevor sie Partei ergreifen oder dem vermeintlichen „Opfer“ zu Hilfe eilen. Nicht immer ist die Sache nämlich so, wie sie aussieht und nicht immer hat der am meisten Schuld, der am lautesten schreit. Wenn Kinder einander körperlich einigermassen ebenbürtig sind, sollen Eltern meiner Meinung nach auch nicht jeden Kampf sofort unterbinden. Insbesondere Jungen haben ein starkes Bedürfnis, ihre Kräfte zu messen und Eltern sollten erst mal beobachten ohne das Ganze gleich als „Gewalt“ zu verurteilen. Sich immer wieder bewusst zu machen, dass Worte häufig verletzender sind als Handgreiflichkeiten, hilft Eltern dabei, handfeste Auseinandersetzungen nicht über zu bewerten.

Haben Eltern den Eindruck, dass ihre Kinder übermässig viel streiten, kann es sinnvoll sein, eine Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen oder den nachfolgenden Fragen nachzugehen: Bevorzuge ich (unbewusst) eines meiner Kinder? Habe ich ein Lieblingskind oder bekommt eines meiner Kinder – aus welchem Grund auch immer – übermässig viel Aufmerksamkeit? Wie sind die Rollen verteilt? Hat ein Kind den Stempel des Sündenbockes, auf dem alle herumhacken und dem von Anfang an wenig Gutes zugetraut wird? Und, wenn ja, welches Kind profitiert davon und wird als „Engelchen“ oder „Sonnenschein“ verwöhnt? Wo provozieren die Kleinen und geniessen es, dass die Grossen bestraft werden? Wir sind als Eltern oft parteiischer, als wir uns eingestehen mögen. Und, nein, wir lieben nicht alle unsere Kinder genau gleich, sondern haben zu jedem Kind eine einzigartige, manchmal auch belastete Beziehung. Was sich jedoch im Lauf der Zeit auch wieder verändern kann, weil Beziehungen ja nichts Statisches sind, sondern Veränderungs-und Entwicklungspotential haben.

Könnte es sein, dass Streiten ein Mittel ist, um ungeteilte elterliche Aufmerksamkeit zu bekommen? Wäre es denkbar, dass Streit uninteressant wird, sobald wir als Eltern gelassen darauf reagieren? Ein Bekannter erzählte, das seine Mutter ihn und seinen Bruder jeweils in einen kleinen Raum steckte mit der Auflage, erst wieder herauszukommen, wenn sie in Ruhe fertig gestritten hätten…in der Regel sei der Streit jeweils rasch beendet gewesen, da „Streiten auf Befehl“ ja keinen Spass mache. Das Beobachten und Ausprobieren neuer Streit-Schlichtmethoden lohnt sich und je unerwarteter unsere  Reaktion ausfällt, desto eher bewirkt sie in der Regel das, was wir uns eigentlich wünschen.

Dass Geschwister sich streiten und es auch lernen, sich wieder zu versöhnen, gehört zum normalen Familienleben. Gleichzeitig sollen unsere Kids aber auch erleben, wie viel eine Familie bewirken und aushalten kann, wenn sie zusammenhält und in ein gutes Miteinander investiert. Starke Familienbande? Nicht zu toppen!