Ein Forschungsteam um Jenny Radesky, Ärztin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Universität Michigan, beschäftigte sich im Rahmen einer Studie mit den Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern, wenn diese häufig mit digitalen Medien beruhigt werden.

Alle Eltern kennen diese Stressmomente, etwa in der langen Schlange im Supermarkt oder im Wartebereich einer Arztordination, wenn das Kleinkind einen Trotzanfall bekommt und sich lautstark vor aller Augen auf den Boden wirft. Wie die Situation deeskalieren? Viele Eltern greifen in solchen Momenten zum Smartphone und das Kind beruhigt sich in Sekundenschnelle, während es ein Video anschaut oder ein Spiel auf dem Handy spielt.

Die aktuelle Studie aus den USA warnt nun vor dem regelmässigen Einsatz von Smartphones und Tablets: Die Geräte sorgten in Situationen wie den gerade beschriebenen zwar kurzfristig für Entspannung, auf lange Sicht könnten dadurch aber weitaus grössere Probleme entstehen. Denn Kinder, die häufig auf diese Weise beruhigt werden würden, versäumten es, eigene Fähigkeiten zur Steuerung ihrer Gefühle zu entwickeln. Und auch deren Eltern würden die Übung in der Anwendung anderer Beruhigungsstrategien verlieren.

Entwicklung von emotionalen und kognitiven Prozessen

Gerade die frühe Kindheit sei ein entscheidendes Zeitfenster für die Entwicklung von emotionalen und kognitiven Prozessen. Zu diesen gehörten die sogenannten exekutiven Funktionen, mit denen Menschen ihr Verhalten steuern. Eine davon sei die Fähigkeit zur Emotionsregulation, die der Steuerung der eigenen Gefühle diene. Diese Fähigkeit ermögliche es Kindern, ruhig und konzentriert zu bleiben und flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. Nicht zuletzt für den späteren Schulerfolg sei sie deshalb sogar wichtiger als Intelligenz, schreibt das Forschungsteam in ihren Studienergebnissen.

Wichtige Phase der Persönlichkeitsentwicklung

Die Entwicklung von emotionalen und kognitiven Prozessen finde vor allem im Alter von zwei und fünf Jahren statt. In diesem Zeitfenster entwickle sich der Frontallappen im Gehirn, der Sitz der individuellen Persönlichkeit und des Sozialverhaltens im Gehirn sei. Die Entwicklung werde entscheidend von der Umwelt beeinflusst, in der das Kind aufwachse. Kleinkinder, die häufig mit digitalen Medien beruhigt werden, bekämen nicht genügend Gelegenheiten, die Fähigkeit zur Emotionsregulation zu entwickeln, so die Studienleiterin Jenny Radesky. Die Ergebnisse der Studie zeigten einen Zusammenhang zwischen der häufigen Verwendung von digitalen Medien zur Beruhigung und einer verstärkten emotionalen Dysregulation bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren. So hätten die Kinder Schwierigkeiten, die eigenen emotionalen Reaktionen zu kontrollieren. Anzeichen dafür könnten plötzliche Stimmungswechsel und erhöhte Impulsivität sein, erläutert Radesky. Besonders ausgeprägt sei der Zusammenhang zwischen Mediennutzung zur Beruhigung und emotionaler Dysregulation bei Kindern, die ohnehin eher impulsiv und besonders aktiv wären. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verwendung von digitalen Geräten zur Besänftigung unruhiger Kinder vor allem für diejenigen problematisch sein kann, die bereits Probleme mit emotionalen Bewältigungsstrategien haben“, so die Ärztin.

Strategien zur Emotionsregulation

Das Forschungsteam rät jedenfalls von Smartphones und Tablets als schnelle Lösung in Stresssituationen ab. „Deren Verwendung zur Beruhigung von Kleinkindern mag wie eine harmlose, vorübergehende Lösung erscheinen, um Stress zuhause zu reduzieren. Es kann aber langfristige Folgen haben, wenn dies zur regelmässigen Beruhigungsstrategie wird“, so Radesky. Gelegentlich und in Ausnahmesituationen sei die Nutzung von digitalen Medien zur Beruhigung und Ablenkung auch für Kleinkinder vertretbar, räumt Radesky ein. Wichtig sei aber, dass Smartphones und Tablets nicht zum Beruhigungsmittel erster Wahl werden. Die Ärztin rät, die Kinder dabei zu unterstützen, eigene Fähigkeiten zur Emotionsregulation zu entwickeln. So habe etwa jedes Kind eigene Vorlieben, welche Arten von Sinneseindrücken es beruhigen. Dies könne eine feste Umarmung, Musik oder auch das Zerdrücken von Knetmasse mit der Hand sein. Weiters rät die Wissenschaftlerin Betreuungspersonen dazu, Gefühle zu benennen und mit dem Kind darüber zu sprechen, was man bei Emotionen wie Wut und Zorn tun kann. Denn wenn Eltern die Gefühle des Kindes benennen, würden sie dem Kind nicht nur helfen, diese einzuordnen, sondern sie zeigten ihm auch, dass es gesehen und verstanden wird.

„Regelmässig angewandt helfen alle diese Methoden Kindern, sich selbst besser zu verstehen und mit ihren Gefühlen umzugehen“, sagt Radesky – vorausgesetzt die Betreuungsperson bleibe ruhig, auch wenn das Kind trotzig und wütend ist. Ablenkungsstrategien, wie der Einsatz von Smartphones und Tablets, lenkten das Kind hingegen von seinen Gefühlen ab und verhinderten den Aufbau von Fähigkeiten zur Emotionsregulation, die den Menschen ein Leben lang begleiteten.

Vorbild der Eltern

Bereits ältere Studien weisen auf den Zusammenhang von Mediennutzung und Entwicklungsstörungen hin. Das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete über Ergebnisse einer grossangelegten deutschen Studie, die vor den Folgen von übermässigem Medienkonsum bei Kindern warnte. So könnte übermässiger Medienkonsum zu Fütter- und Einschlafstörungen bei Babys, zu Sprachentwicklungsstörungen bei Kleinkindern und zu Konzentrationsstörungen im Grundschulalter führen. Beim verantwortungsvollen Umgang mit Medien spielt vor allem das Vorbild der Eltern eine wesentliche Rolle. Wie das IEF berichtete, kritisierte der Psychiater Kurosch Yazdi vom Kepleruniversitätsklinikum Linz vor längerer Zeit, dass Eltern neben allen Vorteilen und Annehmlichkeiten, die digitale Geräte bieten würden, die Gefahren für Kinder verkennen würden. „Je jünger ein Kind ist, desto mehr müssen die Eltern Einschränkungen aussprechen”, betont Yazdi. „Das ist eine Bringschuld der Eltern und gehört zum Erziehen.“

Quelle: Institut für Ehe und Familie

Buchtipp

Welche Vorteile Kinder mit einer weitgehend analogen Kindheit in Zukunft haben werden, beschreibt der österreichische Unternehmensberater und Professor für Sportpsychologie sowie Vater von vier Kindern, Fritz Weilharter, in seinem Buch „Die neue Elite. Warum Kindern ohne Smartphone die Zukunft gehört“. Weilharter erklärt, warum Kinder, die ohne Smartphone aufwachsen, sich geistig und körperlich besser entwickeln und warum sie kreativer, fitter und intelligenter sind. Darüber hinaus gibt er praktische Tipps, wie Eltern einen Plan für die Nutzung digitaler Medien entwickeln und umsetzen können, um ihre Kinder zu einem verantwortungsvollen Umgang zu führen.