Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will Antworten. Er verlangt „Klarheit und Kohärenz“. Er hat weder Geduld, noch will er Zeit verlieren. Am Vorabend der Begegnung mit den Führern der G8 in L’Aquila hat er sich diesbezüglich so in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „Il Corriere della Sera“ geäussert.
Nach 50 Jahren „erzwungener Einschmeichelei“ will er wissen, ob die Europäische Union bereit ist, die Türkei ohne Wenn und Aber als Mitgliedsland aufzunehmen. Denn er würde sich nicht mit einer „privilegierten Partnerschaft“ zufrieden geben. Aber wenn der Ministerpräsident von Ankara sein Begehren in dieser Form ausdrückt, scheint er eine fundamentale Voraussetzung zu vergessen: Auch Europa erwartet seit 50 Jahren von seinem Land klare Antworten, die noch nicht gekommen sind. Da nützt es nichts, in einem Interview die eigenen „Fehler“ auf „Kommunikationsprobleme“ zurückzuführen. Die Frage ist viel konkreter und grundlegender.

Zum Beispiel, wie es heute möglich ist, den Beitritt zur EU zu verlangen, und zugleich einfach den armenischen Genozid zu übersehen oder gar zu leugnen: „Es gibt kein Dokument, das ihn beweist“, behauptet Erdogan im Interview – fast verächtlich gegenüber dem Journalisten, der ihm die Frage stellt. Wie ist es möglich, die Diskriminierung der Minderheiten abzutun als einfache „Irrtümer der Vergangenheit“, trotz der Verurteilung seitens des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg und der Proteste des Heiligen Stuhls über den andauernden Ausschluss der Christen von öffentlichen Ämtern, das Verbot, Kirchen zu bauen oder umzubauen, Seminare anzubieten und Schulen oder soziale Institutionen zu betreiben? Wie ist es möglich, den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der Gefängnis vorsieht für jeden, der die „türkische Identität“ beleidigt, so zu definieren als ob er „besser“ wäre als die Gesetzgebung in Italien, Deutschland und Spanien, die dieses Delikt gar nicht kennen?

Wie ist das möglich? In einer Türkei, welche Strafverfolgung androht für Personen, die andere politische Meinungen vertreten; wo politische Haft, Folter und Misshandlungen üblich sind – wie vielfach dokumentiert durch Amnesty International und Human Rights Watch – wo sogar die Todesstrafe (offiziell zwar abgeschafft) durch eine Verfassungsänderung wieder eingeführt wurde „im Kriegsfall oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr oder für Terrorismus-Vergehen“; in einer Türkei, wo die Meinungsfreiheit gar nicht garantiert ist, wie das der Bericht von 2007 der Europäischen Kommission vor kaum zwei Jahren bestätigte?

Aber Premierminister Erdogan macht sich darüber keine Sorgen. Elf Jahre nach seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe infolge seiner engagierten Einstellung zu einem islamischen Staat ist er daran, mit Erfolg seine Glaubwürdigkeit im internationalen Umfeld neu zu bilden.

Quelle: Correspondénce européenne
Übersetzung: Zukunft CH

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