Was ist von Staatchef Recep Tayyip Erdogans dritter Amtszeit als Präsident zu erwarten? Seit Ende Mai steht der Langzeit-Machthaber auch als Präsident wieder an der Spitze der Türkei – lang genug, um einen Ausblick auf seine dritte Amtszeit als Staatsoberhaupt in Ankara bis 2028 zu wagen.

Von Heinz Gstrein, Orientalist

Diesmal wurde der Reis (Chef) nach Beinahe-Abwahl am 14. Mai 2023 zugunsten der Opposition zwei Wochen später in der nötig gewordenen Stichwahl immerhin von 52,18 Prozent der Wählerschaft in seiner Funktion bestätigt. Bei jenen 106‘000 Türkinnen und Türken, die bei uns in der Schweiz leben, aber weiter daheim stimmberechtigt sind, waren es nur 43 Prozent. Sie glauben eben den Versprechungen des wortgewaltigen Politikers für Re-Demokratisierung und einen Boom von Wirtschaft und Sozialleistungen in der Türkei nicht mehr. Obwohl Erdogan einer ersten und auch noch zweiten Generation von „Fremdarbeitern“, die an ihren Wohn- und Werkplätzen oft gesellschaftlich gedemütigt waren, Selbstbewusstsein und Stolz auf ihre türkische Herkunft und islamischen Glauben geschenkt hat.

Erdogans Traum: eine „türkische Welt“

Erdogans grosse Sprüche aus seinen ersten Reden vom Beginn eines „türkischen Jahrhunderts“, das zur „türkischen Welt“ führen wird oder das von ihm verkündete „Dogma“, dass die wahre Türkei viel grösser als ihre heutigen Grenzen ist, finden schon Anwendung durch seinen neuen Aussenminister Hakan Fidan und den frischgebackenen Geheimdienstchef Ibrahim Kalin. Fidan war vor diesen Wahlen seit 2010 Vorgänger des letzteren an der Spitze dieser „Milli Istihbarat Teskilati“ (MIT). Die französischen Autoren Laure Marchand und Guillaume Perrier werfen dieser Geheimpolizei in ihrem Herbst 2022 erschienenen Bericht „Wölfe lieben den Nebel“ brutale Aktionen im Inland und international vor. Die MIT verschleppe nicht nur politische Gegner aus aller Welt, sondern kontrolliere in Richtung von Erdogans weltweiten Machtbestrebungen islamische Organisationen auch im Ausland.

So bei uns die „Türkisch-Islamische Stiftung für die Schweiz“ (TISS). Diese will den in der Eidgenossenschaft niedergelassenen Muslimen offiziell ein religiöses Leben wie in der Heimat gewährleisten, aber auch Konversionen zum Islam fördern. Abgesehen von diesem Islamisierungsansatz sei die TISS jedoch den französischen Politologen zufolge „ein Handlanger der türkischen Obrigkeit“ und werde total von der türkistischen und islamistischen „Gerechtigkeits- und Aufschwungpartei“ (AKP) kontrolliert. Dabei ist jetzt der finstere Politmuslim Ibrahim Kalin nach Jahren als graue Eminenz an der Seite Erdogans genau am richtigen Platz.

Atatürks Europäisierung auf dem Rückweg

Aussenminister Hakan Fidan wirkt zwar jovialer. Sein Wechsel vom Geheimdienst zur Diplomatie stellt aber eine klare Botschaft an die westliche, noch immer christlich geprägte Welt dar, dass die Türkei zu USA und EU einen härteren Kurs einschlagen wird. Zwar hat Erdogan jetzt wieder seine Beitrittsabsichten zur Europäischen Union beteuert. Doch dürfte es ihm dabei nur ums Herausschinden von noch möglichst vielen Förderungsmitteln für die Türkei als Beitrittskandidat in Brüssel gehen. Ansonsten fallen inzwischen die Golfstaaten und vor allem Saudi-Arabien als spendierfreudige Sponsoren stärker ins Gewicht. Sie verbinden ihre Zuwendungen auch nicht mit menschenrechtlichen Auflagen wie Europäer und Amerikaner. Das bedeutet natürlich, dass die von einem Atatürk von 100 Jahren angestossene Europäisierung der Türkei wieder rückläufig ist.

In diese Richtung weist auch die durch Konteradmiral Cem Gürdeniz erarbeitete und von Erdogan für seine dritte Präsidentenzeit richtungsweisend erklärte aggressive Theorie vom „Mavi Vatan“, dem „Blauen Vaterland“. Darunter verstehen die türkischen Expansionisten das halbe Mittelmeer einschliesslich Zyperns und vieler griechischer Inseln. Bei seiner jetzt ersten Auslandsreise in den seit 1974 türkisch besetzten zyprischen Norden, wonach eine Viertelmillion griechische und armenische Christen vertrieben wurden, hat er dem Westen die Anerkennung dieser türkischen „Zone“ als eigener Staat abverlangt. Seine Begierde richtet sich auch auf Griechenlands Rhodos, Chios oder Lesbos, wo viele Nachkommen der 1920/22 vom türkischen Festland verjagten an die zwei Millionen christlichen Bewohner leben.

Problem der zerrütteten Wirtschaft und der Verarmung

Vordringliches Problem Erdogans muss jedoch rasche Sanierung der zerrütteten türkischen Wirtschaft und der dadurch ausufernden Verarmung immer breiterer Massen werden. Leuchtende Namen in der türkischen Ökonomie wie Wirtschaftsminister Mehmet Simsek oder die neue Chefin der Zentralbank, Hafize Gaya Erkan, verbürgen allein noch keine Kehrtwendung von Erdogans verfahrener Niedrig-Zinspolitik

Die widerspricht jeder finanzpolitischen Theorie, hängt aber mit Erdogans Festhalten an einer schrittweisen Annäherung Richtung islamisches Zinsverbot zusammen. Er ist davon überzeugt, dass künftige Grösse der Türkei und ihr Wohlstand garantiert seien, wenn in allen Bereichen die vom Islam bestimmten Realitäten des späten osmanischen Reiches wiederhergestellt werden. Ein technischer Fortschritt wird davon nicht ausgeschlossen. So betrachtet Erdogan die von seinem zweiten Schwiegersohn Selcuk Bayraktar produzierten Kampfdrohnen als Entsprechung zu den grosskalibrigen Geschützen des ungarischen Kanonengiessers Orban, die entscheidend zum Fall von Konstantinopel 1453 beigetragen hatten.

Für die Christen und Juden in Erdogans Türkei bedeutet das eine gewisse, an Sultanszeiten orientierte Toleranz. Zwar hat er die Hagia Sophia und eine ganze Reihe weniger bekannter Kirchenmuseen wieder zu Moscheen gemacht, genehmigt aber auch die Renovierung und Reaktivierung von Kirchenruinen aus der Zeit der Christenvertreibung. Das gilt besonders für das orthodoxe Ökumenische Patriarchat wie zuletzt auch für die armenische Kirche Surp Hovsep im osttürkischen Mardin. Sie war seit dem Armeniergenozid von 1915 dem Verfall preisgegeben.

Islamisierung vs. Nationalismus

Das hat Erdogan gegenüber seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu voraus. Dessen auf Atatürk zurückgehende Republikanische Volkspartei (CHP) hatte sich zwar schon länger ein sozialdemokratisches Mäntelchen umgehängt. Bei der Stichwahl am 28. Mai kam jedoch ihr alter nationalistischer Kern mit Feindschaft gegen alle Nicht-Muslime zum Vorschein, was auch in der Forderung nach Ausweisung der vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien gipfelte.