Produkte mit Suchtpotenzial sind längst im digitalen Raum angekommen. Sie stehen online rund um die Uhr zum Verkauf und werden stark beworben. Der virtuelle Raum kennt jedoch nur wenige Grenzen und Regeln. Risiken zu erkennen, ist daher entsprechend schwierig. Eine Debatte über sinnvolle Restriktionen sei daher überfällig, sagt „Sucht Schweiz‟ und will diese und die Diskussion über den Umgang von Produkten mit Suchtpotenzial im digitalen Raum anstossen. Dazu hat die Stiftung am 9. März 2022 das Schweizer Suchtpanorama 2022 herausgegeben, das einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen im Suchtbereich und den digitalen Wandel gibt.

Markus Meury, Mediensprecher von Sucht Schweiz, erklärt gegenüber Beatrice Gall von Zukunft CH, wie bezüglich Sucht und Digitalisierung der „Wilde Westen‟ mitten in unserer Gesellschaft tobt.

Zukunft CH: Warum fokussiert das aktuelle Schweizer Suchtpanorama auf die digitale Welt? Was hat sich dort verändert?

Meury: Mit der Digitalisierung der letzten Jahrzehnte, speziell mit dem mobilen Internet, hat sich das Marketing und der Konsum von Substanzen, aber auch von suchtgenerierenden Verhaltensweisen verändert. Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung nochmals einen Schub gegeben. Werbung hat sich noch stärker ins Internet verlegt, der Verkauf von Produkten und Suchtmitteln ebenfalls, ohne dass dabei der Jugendschutz beachtet würde. Zudem haben Casinoanbieter zahlreiche Internetcasinos lanciert, und die Videogames beinhalten auch immer mehr In-game-Kaufanreize. Gleichzeitig verbringen Jugendliche noch mehr Zeit im Internet und in den sozialen Medien. Dies ist ein explosives Gemisch.

Zukunft CH: Sind die Werbeoffensiven im Internet aggressiver geworden?

Meury: Bislang gibt es noch keine systematischen, regelmässigen Untersuchungen. Allerdings lässt sich feststellen, dass die Werbung im Internet zunimmt und auch zielgerichteter ist, da wir bei allem, was wir im Internet tun, Spuren hinterlassen und damit gezielter beworben werden können. Gerade suchtgenerierende Produkte werden gezielt an ein junges Publikum gerichtet, da diese noch am stärksten beeinflussbar sind und auch am längsten Rendite versprechen.

Zukunft CH: Welche Produkte, die Suchtpotential insbesondere für Jugendliche haben, werden besonders stark auf Online-Kanälen vermarktet?

Meury: Legale Produkte wie Alkohol und Tabak werden überall auf Internet vermarktet, auch über Influencer, die verdeckt bezahlt werden. Illegale Produkte wie Cannabis, Kokain, Ecstasy oder verschreibungspflichtige Medikamente finden sich vor allem in sozialen Medien, aber auch im Darknet. Google, Instagram etc. sind völlig intransparent in ihren Praktiken.

Zukunft CH: Sie bezeichnen den virtuellen Raum als „Wilden Westen‟. Warum?

Meury: Es hat sich eine neue Welt aufgetan, wo es aber praktisch keine Regeln gibt. Man kann alles sehen und alles kaufen, weder die Vertreiber, noch die Plattformen, noch die Behörden oder die Politik kümmern sich darum. Auch vor Jugendlichen wird nicht Halt gemacht. Die Vertreiber geben sich mit einem Button „Ja, ich bin über 18 Jahre‟ ein gutes Gewissen, die Plattformen sperren unsystematisch hin und wieder Drogenangebote, aber gleichzeitig auch Werbung von Suchtpräventionsstellen, und die Behörden haben gar nicht die Mittel, mehr zu tun. Das Parlament schliesslich wehrt sich im Namen der Freiheit mit Händen und Füssen gegen die Durchsetzung des Jugendschutzes. Dabei ist ein besserer Schutz der Jugendlichen heute technisch kein Problem mehr.

Zukunft CH: Wo sehen Sie diesbezüglich besonderen Handlungsbedarf hinsichtlich des Jugendschutzes in der Schweiz?

Meury: Jugendliche müssen auf dem Internet vor Suchtmittelwerbung geschützt werden. Anbieter müssten dazu verpflichtet werden, ihre Marketingmassnahmen überprüfen zu lassen, wie es z.B. beim Tabak in vielen Ländern heute schon Praxis ist. Genauso einfach, wie Anbieter heute gewisse Zielgruppen aktiv bewerben, können sie auch dafür sorgen, dass Zielgruppen nicht beworben werden. Beim Verkauf muss durch Massnahmen wie Identitätsüberprüfung beim Bestellen und beim Empfang der Ware sichergestellt werden, dass Minderjährige keinen Zugang erhalten. Social Media-Plattformen müssen gezwungen werden, endlich Drogenverkaufs-Kanäle zu schliessen. Dies wird wohl erst dann geschehen, wenn sie dafür haftbar gemacht werden. Auch hier bräuchte es mehr Mut von Seiten der Politik.

Das Schweizer Suchtpanorama umreisst mit einem einleitenden Communiqué das Thema und bietet spezifische Informationen zum Online-Verhalten, zu Geldspielen, Alkohol, Tabak, illegalen Drogen sowie psychoaktiven Medikamenten. Es kann hier heruntergeladen werden: Schweizer Suchtpanorama 2022