Vancouver, USA: Die Zwillinge Timothy und Lydia feierten am 31. Oktober 2023 ihren ersten Geburtstag. So weit, so normal. Doch ganz so normal ist das nicht: Gezeugt wurden die beiden nämlich bereits im Jahr 1992.

Ein Kommentar von Ursula Baumgartner

Rachel und Philip Ridgeway haben bereits vier Kinder, als die Zwillinge im Jahr 2022 zur Welt kommen. Ihre Geburt ist keine gewöhnliche: Timothy und Lydia entstanden im Jahr 1992 im Rahmen einer künstlichen Befruchtung und wurden als Embryonen eingefroren. 30 Jahre später entschlossen sich die Ridgeways, die sich noch weitere Kinder wünschten, zwei sogenannte „überzählige Embryonen“ zu adoptieren, und „holten sie nach all dieser Zeit aus der Kühltruhe“. Die biologischen Eltern hatten die Embryonen dem „National Embryo Donation Center“ (NEDC) gespendet, einer Organisation, die Embryonen aus künstlichen Befruchtungen „aufbewahrt“ und an kinderlose Paare vergibt. Da der biologische Vater der Zwillinge an einer schweren Erbkrankheit verstarb, fielen die beiden in eine besondere Kategorie an Embryonen, die „special consideration category“ – zu Deutsch etwa: die Kategorie, über die man noch einmal nachdenken sollte.

Rachel und Philip jedoch wollten dessen ungeachtet auch diesen erblich vorbelasteten Embryonen die Chance auf Leben gewähren: „Jeder von uns hat doch das Risiko, alle möglichen Krankheiten zu entwickeln!“ Und so kamen die Zwillinge im Herbst 2022 zur Welt und sind seitdem, wie Rachel sagt, „Mini-Berühmtheiten“.

Die Schattenseiten dieser Geschichte

Die Entscheidung der Ridgeways ist heroisch. Doch die ungewöhnliche Geschichte von Timothy und Lydia gibt reichlich Anlass zum Nachdenken. Zum einen ist sie der beste Beweis dafür, dass das Leben mit der Zeugung beginnt – und nicht, wie so oft behauptet, irgendwann im Verlauf der Schwangerschaft oder gar erst mit der Geburt. Schliesslich sprechen sowohl die Adoptiveltern als auch der zitierte Artikel deutlich davon, dass „Timothy und Lydia“ adoptiert wurden, nicht irgendwelche Vorläufer-Zellhaufen.

Zum anderen wirft die Geschichte aber auch Fragen zum Thema Reproduktionsmedizin auf. Auf der Seite des NEDC ist zu lesen, dass es in den USA schätzungsweise etwa eine Million überzählige Embryonen aus künstlichen Befruchtungen gibt. Eingefroren in flüssigem Stickstoff, warten sie darauf, von ihren biologischen Eltern noch zur Vervollständigung der Familie „gebraucht“ zu werden oder von einem nicht mit ihnen verwandten Paar zur Erfüllung ihres Kinderwunsches. In den Behältern herrschen Temperaturen von etwa minus 200 Grad Celsius. Unnatürlichere Bedingungen für einen Embryo lassen sich kaum denken. Hat man jemals untersucht, welchen Einfluss das Verharren in dieser Eiseskälte auf die Kinder hat? Ist es abgehoben oder esoterisch zu überlegen, ob es Spuren in den Seelen hinterlässt?

Wohin mit den Embryonen?

Wie gehen wir hierzulande mit „überzähligen“ Embryonen um? In der Schweiz wurden im Jahr 2021 etwa 15‘600 Embryonen vernichtet. Das ist etwas mehr als die Einwohnerzahl der Stadt Schwyz. Sie alle wurden einmal „zur Sicherheit“ als Überschuss gezeugt im Auftrag von Eltern mit brennendem Kinderwunsch. Nun sind ihre Familien auch ohne sie „komplett“ und sie werden nicht mehr benötigt. Ihre zeitgleich gezeugten Geschwister waren Wunschkinder. Sie selbst sind nun Abfall. Diese Doppelmoral der Wegwerfgesellschaft ist mehr als traurig.

Der Theologe Antonio Autiero schlug kürzlich vor, überzählige Embryonen aus der künstlichen Befruchtung in Deutschland zu Forschungszwecken zu verwenden. Und als wäre das noch nicht unmenschlich und haarsträubend genug, versteigt sich Autiero zu der Behauptung, die Embryonen würden dadurch „eine neue Chance erhalten“. Was für eine Chance soll das denn sein? Sie erblicken nie das Licht der Welt, erfahren nie die Liebe ihrer Eltern und anderer Menschen. Ihr einziger Daseinszweck ist es nun, Objekt zu sein und im besten Fall dabei zu helfen, Krankheiten zu heilen. Und obwohl dies natürlich wünschenswert ist, kann keine Rede davon sein, dass den Embryonen dadurch „eine neue Bestimmung verliehen“ würde. Mit dieser Argumentation hat sich Autiero nicht nur vom Begriff der Menschenwürde endgültig verabschiedet. Die Logik ist schlichtweg diabolisch, erst recht, wenn man bedenkt, dass sie von einem Theologen und Mitglied einer Ethikkommission kommt.

Was ist eine Familie?

Auch der Begriff der Familie wird völlig umdefiniert, seit die Reproduktionsmedizin in der Gesellschaft Einzug gehalten hat. Gehörten zu einer Familie früher Vater, Mutter und die eigenen Kinder, so unterscheidet man heute biologische Eltern und soziale Eltern. Im Falle einer Leihmutterschaft kommen eventuell noch eine Eizellspenderin und ein Samenspender hinzu. Wie soll ein Kind auf diese Weise jemals zu einer stabilen Identität finden, wenn seine eigene Herkunft völlig zersplittert ist?

Im Fall der Familie Ridgeway kommt noch ein weiterer, völlig abstruser Aspekt hinzu: Rachel ist heute Mitte Dreissig. Ihre Zwillinge sind also eigentlich lediglich drei Jahre jünger als sie. Trotzdem hat sie als Erwachsene die beiden als Babys zur Welt gebracht. Nun fühlt sich ein und derselbe Zeitraum bisweilen sehr unterschiedlich lang an. Doch auch mit allen Mitteln der Technik kann man bis heute die Zeit weder anhalten noch umkehren. Die Entwicklung der Embryonen wurde von 1992 an 30 Jahre lang unterdrückt. Doch die Zeit lief weiter. Wer kann mit Sicherheit ausschliessen, dass die beiden während der 30 Jahre irgendeinem Alterungsprozess unterworfen waren, der sich später bemerkbar macht?

Die heutige Technik konfrontiert uns mit Fragen, die bis vor ein paar Jahren lediglich in Science-Fiction-Filmen Relevanz hatten. Man ist versucht, einfache Antworten zu geben. Doch einfache Antworten werden den Opfern, nämlich den Embryonen, nicht gerecht. Sie dürfen nicht aus der Gleichung gestrichen werden. Sie brauchen unsere Überlegungen, wir müssen die Stimme sein, die sie nicht haben. Das sind wir den kleinen, eingefrorenen Mini-Menschen schuldig.