Der Nationalrat sagt Ja zur „Ehe für alle“ inklusive Samenspende für lesbische Ehepaare. Die Genderrevolution erfasst damit auch das Abstammungsrecht. In einer durch die Wiederholung linksliberaler Phrasen geprägten Debatte glänzte nur ein Genfer.

Von Dominik Lusser

Die Schweiz scheint reif für die „Ehe für alle“. Diverse Umfragen der letzten Jahre deuten darauf hin, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten der gleichgeschlechtlichen „Ehe“ samt Adoptionsrecht und Zugang zur Fortpflanzungsmedizin für lesbische Paare an der Urne zustimmen dürfte. Gleichzeitig präsentieren sich die christlichen Kirchen und Parteien, die vermeintlich letzten Bollwerke der „Ökologie des Menschen“, tief gespalten. Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) erklärte im Juni 2019 auf Anfrage der Rechtskommission des Nationalrats (RK-N), die zivilrechtliche Ehe gehöre nicht zu ihrem Zuständigkeitsbereich. Sie wolle daher auf eine Stellungnahme zum Gesetzesprojekt „Ehe für alle“ verzichten. Ein Indiz dafür, dass sich die Bischöfe selbst in Kernfragen des Naturrechts nicht mehr einig sind. Dafür liess der Basler Bischof Felix Gmür, seit 2019 Präsident der SBK, zwei Monate später über seine Presseabteilung verlauten, der zivilrechtlichen „Ehe für alle“ positiv gegenüberzustehen.

Es erstaunt daher nicht, dass selbst kirchennahe Christdemokraten vom gesellschaftlichen Mainstream mitgerissen werden. Der Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, Mitglied der Bioethikkommission der SBK, stimmte am 11. Juni ebenso für die „Ehe für alle“ inklusive Adoptionsrecht wie seine Luzerner Parteikollegin Priska Wismer-Felder, die in ihrer Pfarrei als Kommunionhelferin wirkt. Die rote Linie sahen beide erst beim Zugang zur Samenspende für lesbische Paare überschritten, weswegen sie sich in der finalen Abstimmung der Stimme enthielten.

Zuvor hatten die Mehrheit der vorbereitende RK-N und der Bundesrat an die Räte appelliert, die Frage der Samenspende lieber erst im Zuge der anstehenden Revision des Abstammungsrechts zu regeln, um den Erfolg der sogenannten Kernvorlage („Ehe für alle“ inkl. Adoption) nicht durch eine Überfrachtung mit umstrittenen Folgefragen zu gefährden. Der Aargauer GLP-Nationalrat Beat Flach hingegen hatte als Vertreter der Kommissionsminderheit beantragt, die zivilrechtliche Voraussetzung für die Samenspende sofort zu behandeln. Die Ratsmehrheit aus Linken (SP, Grüne) und Liberalen (GLP, FDP) folgte diesem Antrag fast einstimmig, sodass die Mitteparteien (CVP, EVP, BDP) und die konservative SVP dagegen selbst bei geschlossenen Reihen den Kürzeren gezogen hätten. Das Resultat zugunsten der Kernvorlage plus Samenspende fiel in der Gesamtabstimmung mit 132 zu 52 Stimmen bei 13 Enthaltungen weit deutlicher aus, als es viele erwartet hatten.

Die vorangehende mehrstündige Debatte war durch die Wiederholung linksliberaler Gemeinplätze geprägt. Sachlich in die Tiefe gingen die Befürworter der „Ehe für alle“ kaum. Es gehe um vollständige Gleichstellung und gegen Diskriminierung. Und schliesslich komme es nicht darauf an, ob ein Kind Vater und Mutter oder aber zwei gleichgeschlechtliche „Eltern“ habe, sondern darauf, dass es geliebt werde. Auch Justizministerin Karin Keller-Sutter teilte diesen Standpunkt und betonte, dass die „Frage des Kindeswohls (…) nicht einfach schematisch entschieden werden“ könne. Zu den wenigen Glanzpunkten der Diskussion zählten die ebenso kernigen wie klugen Voten des Genfer SVP-Nationalrats Yves Nidegger. Der Jurist stellte sich insbesondere gegen die Änderung im Zivilgesetzbuch, analog zur Vaterschaftsvermutung künftig die „Ehefrau“ der Mutter von Gesetzes wegen als zweiten „Elternteil“ anzuerkennen.

Die Infragestellung des Ehebegriffs diene einzig und allein als Schlüssel zum Abstammungsrecht, denunzierte Nidegger die Strategie der Linken und Liberalen. Darin liege, so der Anwalt, der „Kern der Absurdität“ und „diabolische Charakter“ dieses Vorgehens, das darauf ziele, „dem Kind den Grundsatz der weiblichen Vaterschaft aufzuerlegen. (…) Stellen wir uns eine verheiratete Frau vor, die von ihrem Ehemann schwanger wird, sich aber noch vor der Geburt scheiden lässt, um sich mit einer Frau zu verheiraten. Bei der Geburt des Kindes hätte dieses als zweiten Elternteil eben diese Frau, mit der es in keiner Beziehung steht, und es würde im gleichen Zug das Recht auf eine Beziehung mit seinem Vater verlieren.“ Beim geforderten Recht lesbischer Frauen auf männliche Samen gehe es letztlich um nichts weniger als den „gesellschaftlichen Vatermord“, bzw. „darum, ob Erwachsene das Recht haben, einem Kind seine Beziehung zum Vater vorzuenthalten, da es offensichtlich nicht möglich ist, ein Kind anzuerkennen, das bereits zwei Eltern hat.“

Der Ständerat wird voraussichtlich im September über die Vorlage beraten, wobei in der Frage der Samenspende mit einem knapperen Abstimmungsergebnis gerechnet wird. Stimmt auch der Zweitrat für die „Ehe für alle“, wird die christlich-konservative Kleinpartei EDU, zu deren Wählerschaft vor allem freikirchliche Christen gehören, dagegen das Referendum ergreifen. Gelingt es ihr, innerhalb von 100 Tagen 50‘000 amtlich beglaubigte Unterschriften zu sammeln, kommt es zur Volksabstimmung. Diese dürfte gegen die gemachte Meinung sämtlicher Leitmedien allerdings äusserst schwer zu gewinnen sein. Es braucht wohl ein Wunder, um die Einführung der „Ehe für alle“ noch abzuwenden.

Erschien zuerst in der Tagespost vom 19. Juni 2020.