Trotz Kinderproblematik, Elternverdruss, Trennungsängsten und Dankespflicht: Kinder brauchen die Begleitung durch die Familie.
Der Mensch kommt unfertig auf die Welt – das ist seine Schwäche, aber auch seine Chance. In einer langen Phase der Entwicklung reift er zum Erwachsenen. Die Erziehung ist Aufgabe und kultureller Auftrag der Eltern vor Gott und der Gesellschaft. Vater und Mutter werden sich mühen, die Persönlichkeit des Kindes zu entfalten und es lebensfähig zu machen. Es ist ein Geschenk, wenn heute dabei eine Verankerung im biblischen Glauben noch eine Rolle spielt.

Wer dem Kind das Leben und die Gottesbeziehung erschliessen will, braucht viel Vertrauen, Wissen und Engagement. Die Eltern sind die erste und wichtigste Quelle, die dem Kind meist für das ganze Leben das Fundament und die Richtung vorgeben. Aber unsere Kinder sind keine Lego-Bausteine, die man systematisieren und nach Wunsch hin und her schieben, verkanten oder zusammenstecken kann. Wie die jungen Zweige eines Naturbaumes wachsen sie auch einmal unberechenbar, gegen Wunsch und Willen der Eltern, entwickeln sich in unterschiedlichen Richtungen und erscheinen manchmal wenig diszipliniert. Oft hilft da auch keine ordnende Hand. Alles ist voller Leben, quirlig in Gedanken, Worten und Taten. Erst später kommen sie in eine Phase des Nachdenkens. Dann geht ihnen auf, dass ohne geordnete Verhältnisse und ohne ein Glaubensfundament im Leben meist gar nichts geht.

Konflikte gehören zum Alltag

Dabei wird das Hineinwachsen in Beruf und Gesellschaft in unserer Zeit immer komplizierter und unsicherer. An die Stelle von Gewissensbildung sind soziale und materielle Probleme getreten. Konflikte und Komplikationen gehören heute zum Alltag. Noch nie zuvor wurden Heranwachsende mit einer solchen Fülle von Informationen, Technik und Theorien konfrontiert. Ein Berg von Kenntnissen und Erkenntnissen muss erarbeitet werden, um berufs- und lebensfähig zu werden. Für Eltern wird alles schwieriger, weil sie mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten in vielen Fällen nicht mithalten können, selbst unentwegt lernen müssen.

Zudem werden durch die familiären und gesellschaftlichen Lebensumstände das Verhältnis und das Verhalten zwischen Eltern und Kindern zunehmend sensibler. Weder die Eltern sind perfekt noch die Kinder! Vor Gott sind wir gemeinsam Kinder. Aber das Ziel ist allen Seiten klar: Unsere Kinder sollen und müssen eines Tages auf eigenen Füssen stehen, selbständige Menschen werden, Freiheit und Verantwortung meistern, durch Erfolg und Versagen hindurch. Es kommt daher der Punkt, an dem das Ablösungsgeschehen aus dem Elternhaus ein natürlicher Vorgang ist und stattfinden muss.

Ablösung aus dem Elternhaus darf kein Abriss werden

Aber das „Ablösen“ darf nicht zum „Abreissen“ werden. Schon eine normale Trennung geht durch einen schmerzenden Reifungsprozess hindurch. Am Anfang stehen Unsicherheit und das Empfinden, dass etwas anders werden wird. Die Eltern möchten oder würden, die Kinder sollen oder wollen. Aber manchmal wird allzu scharf und schroff, vor allem zu früh das Band und die Bindung zu jener Kraft durchtrennt, von der man zehrt und sich nährt. Eine zu frühe Ablösung – besser als „Abbruch“ oder „Abriss“ bezeichnet – kann gewagt und riskant sein. Sie führt zu Konflikten und zur Verunsicherung des jungen Menschen. Eine gewisse Beziehungslosigkeit setzt ein: Weder zum Bisherigen noch zum Neuen, das meist noch nicht ausreichend definiert werden konnte, besteht eine gefestigte Verknotung. Der junge Mensch lebt aber noch von der bisherigen Beziehung, nicht nur materiell, sondern vor allem vom seelischen Hintergrund her (auch wenn er sich das kaum eingestehen will). Entzieht er sich dieser emotionalen Bindung, dann verliert er Heimat und Geborgenheit, sinkt oftmals ins Leere und in die Einsamkeit.

Eben das ist die Gefahr einer vorzeitigen, abrupten Verselbständigung, wenn sie nicht schrittweise erfolgt, wie es für jeden gesunden Wachstums- und Ablösungsprozess normal und selbstverständlich wäre. Häufig genug werden junge Menschen unverhältnismässig früh wegen schulischer oder beruflicher Ausbildung genötigt, ihr Daheim zu verlassen. Oder sie werden aus dem Elternhaus hinausgedrängt, weil Vater und Mutter ihr eigenes Leben leben wollen, möglicherweise mit neuen Partnern. Andererseits streben Kinder drangvoll danach, sich den Eltern zu entziehen und dem häuslichen Druck auszuweichen, um sich eigenständig aufzubauen, selbst wenn sie noch nicht recht flügge und oft unreif sind. Daneben gibt es auch Nesthocker, die nicht aus der elterlichen Wohnung weichen wollen und sich, selbst wenn sie längst volljährig sind, noch verwöhnen und versorgen lassen.

Bildhafte Beispiele in der Natur

Die Schöpfung um uns herum vermittelt bildhafte Beispiele. Auch in der Natur löst sich das Korn erst aus der Ähre und der Apfel vom Baum, wenn die Reife erreicht und das vorgesehene Stadium eingetreten ist. Reisst man die Frucht zum Verzehr unreif ab, verdirbt man sich den Magen. Vom Sturm heruntergeschüttelt, zerschellt sie meist und ist nicht verwertbar. Mit Gewalt abreissen führt also zur Unbekömmlichkeit und Fäulnis. Was die Natur damit lehrt, ist anschaulich genug und praktisch übertragbar auf manches menschliche Zusammenleben. Mit Gewalt aus der Geborgenheit weggerissen zu werden oder sich selbst entfernen zu wollen, kann unbekömmlich sein und zu mancherlei Anfälligkeiten führen. Es gibt jedoch Fälle, in denen sich die Jüngeren mit Recht gegen eine künstlich verlängerte Abhängigkeit und Bindung wehren. Man kann auch nicht einen reifen Apfel mit einem Zwirnsfaden am Ast des Baumes befestigen, nur um ihn lange festzuhalten. Er wird auch dort in Fäulnis übergehen. Eine unnatürliche Reglementierung bringt also kein gutes Ergebnis.

Spannungen in der Familie sind unvermeidbar. Lähmend wirken sie aber erst, wenn sie nicht besprochen und ausgetragen werden und dahinter keine Haltung liebender und geduldiger Bereitschaft auf beiden Seiten spürbar wird. Dabei wird man Kinder betend loslassen, ohne sie einem Irrweg zu überlassen. Losgelassene Kinder kommen meist gerne zurück.

Die Frage der Dankbarkeit

Die Frage einer gewissen Dankbarkeit steht in der Familie oft im Raum und weckt bestimmte Zweifel. Ich lese Meinungsäusserungen: „Unsere Kinder halten uns unsere Erziehungsfehler vor. Wir wären zu streng gewesen, hätten zu wenig Zeit für sie gehabt etc. Mag sein, dass wir nicht alles richtig gemacht haben, aber wir taten, was wir irgend konnten. Von den Kindern kommt uns das jetzt ziemlich undankbar vor.“ Eine andere Stimme: „Müssen Kinder als Erwachsene dafür dankbar sein, dass sie von ihren Eltern früher gewickelt, versorgt, ernährt und grossgezogen wurden, oder ist das etwas, was einfach ‚dranhängt‘, wenn man Kinder in die Welt setzt?“ Der frühere Dekan Kurt Henning formulierte das Problem so: „Von den Kindern kann man keinen Dank und natürliche Ehrerbietung verlangen, weil es die einfach nicht gibt. Die gibt es nur dort, wo Gottesfurcht erwachsen ist. Wenn das nicht ist, kann man im Ernst nicht damit rechnen, dass die eigenen Kinder Vater und Mutter danken.“ Das wirkt ernüchternd, trifft aber die Wirklichkeit.

Ein Familienidyll und das Vaterhaus im einstigen Sinne gibt es nicht mehr oder ist seltene Ausnahme geworden. Das Zerbröseln der Zusammengehörigkeit wird leidvoll wahrgenommen und wurde auch von pädagogischen und politischen Ideologen in der Vergangenheit und Gegenwart gewollt und gefördert. Die Zerstückelung und Verzerrung der Familie sind Realität geworden. Die Situation ist nicht nur für Eltern schwierig geworden. Auch Kinder müssen über Barrieren hinweg, wollen sie Vater und Mutter nahe bleiben. Im Grunde brauchen sie die bergende Wärme, die Zuflucht, das Zuhause, das heimische Nest bis in spätere Zeiten hinein. Selbst wenn die Eltern geschieden sind: Die Getrennten bleiben Vater und Mutter, die Elternschaft wird ihnen nicht abgenommen und kann nicht rückgängig gemacht werden. Letztlich wird immer ein Band zwischen Eltern und Kindern bestehen.

Segen Gottes wird verheissen

Im ersten Abschnitt des Lebens taten Vater und Mutter alles für ihre Kinder, im letzten Abschnitt werden sich dann (hoffentlich) die Kinder um die Eltern kümmern. Eltern sollten sich aber nie darauf verlassen und darauf bauen. Meist können die Kinder das nicht. Ohne Gottesbeziehung geht nichts. Gott ermutigt die Jungen im vierten Gebot: „Achtet und beachtet insbesondere die zwei Menschen, die euch das Leben gaben und euch daseinsfähig machten. Ehrt Vater und Mutter. Ihr werdet dadurch selbst gesegnet sein.“ Dies ist das einzige Gebot, das mit solch einer persönlichen Verheissung versehen wird. Auch wenn Risse im Lack des Vaterbildes entstanden sein sollten und die Mutter in die Nähe der Verzichtbarkeit gerückt wird, gilt dennoch dieses Wort, das weder geschmälert noch verwässert werden sollte. Denn es wirkt sich für beide Teile positiv und harmonisierend aus, für Kinder und Eltern.

Gottes Ordnungen sind nicht Nötigung oder Zwang, sondern ein Ausrichten an ewigen Werten. Dem unterstellt sich christliche Erziehung, ist aber keine geistige Entmündigung oder geistliche Dressur, sondern ein Massnehmen an Leitlinien und Regeln, die eine Ausuferung und Willkür verhindern. Wenn Eltern nicht überrollt werden wollen, müssen sie in die Arena steigen und den Kampf mit der neuen Zeit wagen. Wir müssen bereit werden, den Glauben zu leben und Formen zu finden, die für unsere Kinder verständlich und nachvollziehbar sind im praktischen Alltag. Glaubwürdigkeit ist unteilbar.

Liebe als Grundhaltung

Die Verantwortung von Vater und Mutter kann von keiner Institution ersetzt werden. Die Zuneigung der Kinder findet im Normalfall kein besseres Zuhause als das Herz der Eltern. Und die Kinder werden eines Tages – hoffentlich – etwas an Dankbarkeit zurückgeben von dem, was sie empfangen haben. Erziehung geschieht nicht auf Dank hin, sondern auf Hoffnung. Niemand hat das Ergebnis in der Hand und niemand besitzt eine Garantie. Eine tief wurzelnde Grundhaltung der Liebe sollte sich entwickeln, die dann ein Leben lang durchhalten kann.

Eltern und Kinder sind Leihgaben Gottes und nur auf Zeit gegeben. Sie sind trotz ihrer gesellschaftlichen Gefährdung und bedrohter Zukunft unersetzlich und daher umso nachhaltiger zu stützen. Das Miteinander von Vater, Mutter und Kindern bleibt ein verletzliches Gut. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine besondere Gnade, wenn Verständnis, Vertrauen und Zuneigung gelingen. Wir wissen nie, was die Lebensumstände an uns herantragen, wie lange Gesundheit, Ehe und Familie durchhalten und unser gemeinsames Leben füllen, aber wir vertrauen, wir wagen, wir hoffen, wir glauben und danken.

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Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion des Magazins „ethos“. ethos ist eine Monatszeitschrift rund um Leben und Glauben. Ein kostenloses Probeheft kann online bestellt werden auf www.ethos.ch.

Von Gerhard Naujokat