Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
Und lauscht hinaus. Den weissen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

Diese schönen Verse verdanken wir dem deutschen Dichter Rainer Maria Rilke. Überlegungen zu Reimschema und Versmass kann man an einem Adventssonntag getrost hintanstellen, doch die Bilder, die Rilke vor unserem inneren Auge erstehen lässt, sollte man mit Musse betrachten.

Wie kalt und ungemütlich klingt „Schneesturm“, doch wie charmant ist die Vorstellung, dass der Wind als Hirte seine „Flockenherde“ gezielt in eine Richtung treibt!

Noch schöner ist jedoch der Gedanke, dass sich die Tanne im Wald auf ihre Rolle als Weihnachtsbaum vorbereitet. Denn dass mit der „einen Nacht der Herrlichkeit“ die Weihnacht gemeint ist, ist wohl bei einem Adventsgedicht nicht von der Hand zu weisen. Diese Vorbereitung beginnt sehr innerlich mit einer Ahnung und einem Lauschen, gefolgt vom aktiveren Teil: dem Strecken, dem Wehren gegen den Wind und dem Wachsen (eine Alliteration, wie wunderbar!). Das Ziel ist klar: „fromm und lichterheilig“ soll die später geschmückte Tanne werden. Lichterheilig – was für ein bezauberndes Wort!

Vielleicht ist ja die Tanne ein Bild für jeden von uns. Vielleicht lädt uns der Advent ein, stiller zu werden, um ahnen und lauschen zu können. Und erst dann beginnt die gezielte Vorbereitung. Erst dann können wir uns wirklich denjenigen hinstrecken, die uns brauchen, können uns effizient wehren gegen alle Widrigkeiten und innerlich wachsen. Und dann können auch wir Weihnachten „lichterheilig“ begehen.

Ein bestimmtes Wort bekommt in Rilkes Gedicht eine besonders exponierte Stellung. Denn eines muss man für all das sein: bereit.