Der Medienphilosoph Norbert Bolz vertritt im Interview mit dem Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (iDAF) die Ansicht, dass in Deutschland die Meinungsfreiheit gefährdet und die Suche nach Wahrheit durch den Konstruktivismus ersetzt worden ist.

„Abweichende Meinungen werden moralisch sanktioniert. Wer nicht mit dem Mainstream schwimmt oder treibt, dessen eigene moralische Integrität wird infrage gestellt, auch wenn das Thema mit Moral nichts zu tun hat“, sagt Bolz. Als Beispiele nennt der Professor für Medienwissenschaften der Technischen Universität Berlin das Flüchtlingsthema, Europa oder Trump. Man könne da eigentlich nur noch eine Meinung äussern. „Dasselbe bei der Energiewende. Je grösser das politische Thema ist, umso schwieriger ist es, eine abweichende Meinung zu formulieren.“

Produktion von Bewusstsein

Jeder lebe zusehends nur noch in seiner Informationsblase und interessiere sich für andere Meinungen nicht mehr: „Eine Blase ist der Mainstream, eine andere sind die Paranoiker, also die Blase der Verschwörungstheorien. Ein freier Meinungsaustausch findet jedenfalls nicht mehr statt.“ ARD und ZDF haben zur Klärung von Begriffen in den Redaktionen eine Handreichung, genannt Framing, in Auftrag gegeben. Auch dieses Framing der öffentlich-rechtlichen Medien ist für Bolz eine Informationsblase. „Mit dieser Form der Sprachregelung wird die orwellsche Utopie vom Neusprech Wirklichkeit. Das ist die Produktion von Bewusstsein durch Sprachpolitik und gehört in das grosse Thema der politischen correctness.“ Man wolle das Denken prägen im Sinn des von den öffentlich-rechtlichen Medien propagierten Mainstreams.

Viele Deutsche schauen zwar noch die Tagesschau oder das Heute-Journal, aber es seien zu viele Skandale passiert, die das Vertrauen zerstört hätten. „Es gibt ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Journalisten, man glaubt ihnen nicht mehr.“ Als Alternative nennt Bolz das Internet: „Ich persönlich könnte mir kein Bild mehr von der Welt machen, wenn die Informationen der Öffentlich-Rechtlichen nicht immer wieder durch das Netz relativiert würden. Das Netz ist für mich die wichtigste Informationsquelle.“ Durch geschicktes Navigieren könne man sich befreien und aus der „Knechtschaft der klassischen Massenmedien“ ausbrechen. Viele seiner Studenten würden sich nur noch im Netz informieren, so der Professor.

Als Tipp fürs geschickte Navigieren nennt der Medienphilosoph die gezielte Nutzung von Twitter: „Zwar folge ich nur wenigen, aber intelligenten Leuten, deren Urteil und Analysen ich sehr schätze. Sie sind für mich vertrauenswürdig. Und sie weisen mit Links auf Artikel und Publikationen hin, die ich sonst nie lesen würde.“

Hypothesen anstatt Wahrheit

Auch rät Bolz zum Gebrauch des gesunden Menschenverstandes: „Der sagt immer noch, was richtig oder falsch, zuträglich oder abträglich, hässlich oder schön ist.“ Denn die unheilige Allianz zwischen Medien und Politik gäbe es auch im Netz. Ferner bereiten ihm „die neoreligiösen Bedürfnisse“ wie der „Greta-Wahn oder das „Essen als Religionsersatz“, die das Denken ausschalten würden, Sorge. „In diesen pseudoreligiösen Bewegungen sehe ich Gefahren für die Gesellschaft.“

Mit dem Begriff der Wahrheit könne die Moderne nichts mehr anfangen, erklärt Bolz. „Die Wahrheit wird ersetzt durch Hypothesen. Das ist letztlich Konstruktivismus. Der liefert aber nur kleine Autonomien.“ Die Definition der Wahrheit als Enthüllung der Wirklichkeit und Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen gilt nicht mehr. „Der Konstruktivismus ist eine kopernikanische Wende in der Geistesgeschichte. Er hat das Kontingenzbewusstsein ersetzt durch ein Hypothesendenken. Das ist nichts anderes als der Verzicht auf die Wahrheit, was mit Kant begonnen hat, Kant ist schon ein Konstruktivist.“

Daraus folgt laut Bolz, dass wir in Fiktionen leben. „Aber die lebensnotwendigen Funktionen reichen offenbar den Menschen. Solange der Betrieb, das System läuft, solange wird nicht hinterfragt.“ Und auch in der Wissenschaft gäbe es allgemeingültigen Standards mehr für Erkenntnisse. „Jede Wissenschaft konstruiert heute ihre eigene Welt. Der Konstruktivismus wird immer radikaler.“

Droht die Anarchie?

Auf die Frage, ob es überhaupt noch einen Konsens in der Gesellschaft gäbe ausser der Strassenverkehrsordnung, sagt Bolz: „Nein, jedenfalls nicht im Sinn von positiven Werten. Wir sind uns nur noch einig, was wir nicht wollen. Die negative Wertegemeinschaft reicht uns, wir grenzen nur noch aus. Diese Gesellschaft kann nur noch abwehren. Die Strassenverkehrsordnung ist geradezu ein Paradebeispiel. Ihr Regelwerk besteht aus Verboten, es ist ein negativer Konsens. Wer ihn verlässt, der wird bestraft.“

Trotz Fehlen einer allgemein anerkannten Wahrheit, eines positiven Wertekonsens und bedrohter Freiheit glaubt Bolz aber nicht an eine bevorstehende Anarchie, „weil die einzelnen Teilsysteme funktionieren.“ Es gebe auch genügend gebildete Menschen, die diese Systeme am Laufen hielten. „Zwar werden es weniger und die Zahl der Dumm- und Quatschköpfe steigt, aber das bleibt erträglich, weil wenige Menschen ausreichen, um diese Gesellschaft in vernünftigen Bahnen zu halten.“ Bolz bleibt optimistisch, vor allem mit Blick in die Wirtschaft und die Technik. „Das sind die Bereiche, wo einzelne mit Privatinteressen und Karriereperspektiven – das sind die ausschlaggebenden Fakten – die Welt gestalten und Freiheit weiter ermöglichen.“