Mit zunehmender Dauer des Bürgerkriegs in Syrien spitzt sich die Lage der Zivilbevölkerung im Land und der Flüchtlinge in den Nachbarländern immer mehr zu. Im Gespräch mit dem weltweiten katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ gibt der Präsident der Caritas Libanon, Simon Faddoul, einen Einblick in die unübersichtliche Lage in der Region und bittet die internationale Gemeinschaft um mehr Hilfe bei der Lösung des Konflikts. Das Interview führte André Stiefenhofer.
Herr Faddoul, in den westlichen Medien wird meist gesagt, dass der syrische Staatspräsident Bashar Al-Assad inzwischen mit dem Rücken zur Wand steht – ist das wahr?

Leider sind Ihre Medien mehr von politischen Wunschvorstellungen beeinflusst als von wirklichen Fakten. Jeder weiss, dass heutzutage in Syrien über 100 verschiedene Gruppierungen in Kampfhandlungen verwickelt sind. All diese Gruppierungen bekämpfen zwar das Regime, aber nicht zusammen. Das heisst, die Kämpfe könnten zu jeder Zeit auch zwischen den Rebellengruppen ausbrechen – spätestens, sobald das Regime zusammenbricht. Das Regime erscheint mir aber stark, die Armee weiterhin grösstenteils vereint.

Was hören Sie über die Lage der Menschen in den von den Rebellen kontrollierten Landesteilen?

Man kann nicht gerade sagen, dass die Menschen dort ihr Leben geniessen. Wir hören von Misshandlungen durch Rebellengruppen. In manchen Regionen sind islamistische Gruppierungen an der Macht, die von der christlichen Bevölkerung „Dschizya“ verlangen – das ist eine Zwangssteuer für „Ungläubige“, eine Art „Schutzgeld“. Die Christen und alle anderen Nicht-Muslime sind in diesen Regionen heute Bürger zweiter Klasse. Ein Bischof sagte mir, dass er Geld von den Wohlhabenden sammelt, um das Leben der ärmeren Christen zu retten. Das alles ist sehr traurig. Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass das Regime im Recht ist. Nein, das Regime ist totalitär, eine Diktatur und muss deshalb geändert werden. Aber es ist bis jetzt völlig unklar, was danach kommt. Denn wir wissen nicht einmal, wer in Syrien gegen wen und für was kämpft. Diese Unsicherheit stützt das Regime und hält viele Menschen davon ab, die Rebellen zu unterstützen.

Aber sind die islamistischen Kräfte unter den Rebellen nicht eher eine extremistische Minderheit?

Wir wollen es hoffen, aber es muss nicht unbedingt eine Minderheit sein. Die Erfahrungen in Tunesien, Ägypten, Irak und Libyen haben uns gelehrt, dass jene, von denen der Westen dachte, dass es nur Minderheiten seien, in der Lage waren, die Macht an sich zu reissen und nun in der Regierung zu sitzen. In all diesen Ländern wissen wir ausserdem, dass die Bilanzen dieser islamistischen Regierungen furchtbar sind. Die Menschen in diesen Ländern führen heute ein noch miserableres Leben als vor dem „Arabischen Frühling“. Das heisst nicht, dass wir die noch bestehenden autoritären Regime beschützen sollten – aber der Wandel sollte doch bitte auf demokratischrechtsstaatlichen Grundlagen vor sich gehen und nicht aufgrund von religiösen Überzeugungen. Die Staatsbürgerschaft muss über der Religionszugehörigkeit stehen.

Einen derart blutigen Bürgerkrieg wie in Syrien hat der „Arabische Frühling“ bisher allerdings bei aller Kritik nicht hervorgebracht …

Wir konnten auch in Syrien beobachten, dass die Demonstrationen zunächst sehr friedlich und geordnet abliefen. Das war wunderbar! Die Menschen haben nicht gekämpft, egal wie sehr sie vom Regime angegriffen wurden. Doch genau diese gewalttätige Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen hat die Proteste schliesslich zu Unruhen werden lassen. Heutzutage muss man leider sagen, dass der syrische Bürgerkrieg dschihadistische Züge trägt. So sollte es auf keinen Fall sein. Unter den Rebellen gibt es neben Muslimen auch Christen, aber seitdem das Ganze ein „Heiliger Krieg“ geworden ist, werden alle Nicht-Muslime vom Freiheitskampf des Volkes ausgeschlossen. Das ist eine Exklusion, und wir bräuchten eine Inklusion. Wir müssen unsere Augen öffnen. Es geht nicht darum, die Konfliktparteien in „diese“ und „jene“ einzuteilen. Aber wir müssen die feine Linie erkennen, die den einen Rebell vom anderen unterscheidet. Wir müssen mit der Opposition sprechen und ein neues Regime entwerfen, das alle Bürger annimmt und gleich behandelt.

Wie genau verlaufen denn zurzeit die Frontlinien? Welche Städte werden von den Rebellen gehalten und welche von der Regierung?

Das ist schwer zu sagen. Nehmen Sie zum Beispiel Aleppo – hier werden einige Viertel von den Rebellen kontrolliert, andere von der Regierung. Gleiches gilt für Homs. Allgemein kann man sagen, dass die Region zwischen Homs und Damaskus von der Regierung gehalten wird. Die Region zwischen Homs und Aleppo wird inzwischen hauptsächlich von den Rebellen kontrolliert. Das sind aktuelle Informationen, die mich vergangene Woche erreicht haben.

Die Caritas im Libanon kümmert sich um alle syrischen Flüchtlinge im Land. Vor wem fliehen die meisten? Vor der Armee oder den Rebellen?

Vor beiden. Der Granatbeschuss und die Luftangriffe sind so schlimm geworden, dass die Menschen die Flucht ergreifen. Sie fliehen also nicht vor anrückenden Truppen der einen oder anderen Seite, sondern um dem ständigen Bombardement zu entkommen. Im Libanon haben wir unter anderem deshalb so viele Flüchtlinge, weil die meisten Kämpfe bisher nahe an unserer Grenze stattgefunden haben und die Menschen daher vor allem zu uns flohen.

Kann der Libanon denn weiterhin Flüchtlinge aufnehmen?

Unsere grösste Angst ist es zurzeit, dass die Schlacht um Damaskus ausbrechen könnte. Diese Grossstadt liegt nur etwa 30 Kilometer von unserer Grenze entfernt. Schon jetzt haben wir 1,2 Millionen Flüchtlinge im Libanon. Was wird geschehen, wenn weitere 500‘000 kommen? Wir haben doch selbst nur vier Millionen Einwohner. Die Grenzen sind offen – die Menschen brauchen nicht einmal einen Pass, um in den Libanon zu kommen. Dann dürfen sie sogar arbeiten. Bereits vor dem Krieg wurden alle niederen Arbeiten im Libanon von Syrern verrichtet. Doch langsam stossen wir an unsere Grenzen. Wir können eigentlich nicht alle aufnehmen, aber sie sind nun einmal da. Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen.

Welche Zukunft sehen Sie für Syrien und den Nahen Osten?

Ich sehe ehrlich gesagt ziemlich schwarz. In Syrien setzt sich ein Dominoeffekt fort, der bereits im Irak, in Libyen und in Ägypten stattgefunden hat, und von dem ich hoffe, dass er nicht auch noch auf Jordanien und den Persischen Golf übergreift. Ich glaube, dass irgendjemand da draussen die Landkarte des Nahen Ostens ohne Rücksicht auf Menschenleben und Schicksale neu zeichnet.

Das klingt ja beinahe nach einer Verschwörungstheorie. Wer würde denn von so einer Neuordnung profitieren?

Ich weiss nicht, wem oder was das dienen soll. Ich kenne die Motive nicht, die dahinterstecken. Vielleicht geschieht es, um einige Nachbarländer zu entlasten. Vielleicht, um die Region von seinen Minderheiten und insbesondere von seinen Christen zu säubern. Ich weiss es nicht, denn ich bin kein Politiker. Ich möchte hier keine Hypothesen ohne Faktengrundlage aufstellen. Aber was ich feststellen muss, ist, dass wir Christen die grössten Verlierer und Sündenböcke dieser ganzen Entwicklung im Nahen Osten sind. Solange die westlichen Mächte das nicht wahrhaben wollen und weiter ihre eigenen Interessen verfolgen, statt die Bedürfnisse der Menschen unserer Region an die erste Stelle zu setzen, kommen wir nicht weiter. Das Engagement des Westens im Nahen und Mittleren Osten ist widersprüchlich. Auf der einen Seite wollen sie Demokratien fördern, aber auf der anderen Seite unterstützen sie Theokratien. Auf der einen Seite predigen sie den Laizismus und die Trennung von Staat und Religion. Aber auf der anderen Seite unterstützen sie Länder, deren Staatsreligion der Islam ist. Warum ist das so? Das können wir im Nahen und Mittleren Osten nicht verstehen. Ich sage Ihnen: Amerika und Europa halten die Zukunft der ganzen Welt in ihren Händen. Was machen Sie mit dieser Verantwortung?

Welchen Appell möchten Sie an den Westen richten, damit er seiner Verantwortung gerecht wird?

Hat der Gründer von „Kirche in Not“, Pater Werenfried van Straaten, nicht immer betont, dass Gott weint und wir seine Tränen trocknen müssen? Wo weint Gott denn? In wem? Doch wohl in den Menschen! Es ist so leicht, über Leiden, Schmerzen und Verzweiflung zu sprechen. Aber es ist so schwierig, zu den Menschen zu gehen und die Tränen abzuwischen. Das brauchen wir! Nicht nur humanitäre Hilfe, sondern Seelsorge. Und die Politik muss endlich begreifen, dass man nicht einfach eine Landkarte nehmen und strategische Interessen umsetzen kann, koste es, was es wolle. Die gewaltigen Verluste an Menschenleben und Gütern sind der Politik offensichtlich egal. Bis zum heutigen Tag beträgt der Kriegsschaden in Syrien zwischen 250 und 300 Milliarden Dollar – und das ist nur der rein materielle Schaden. Ich habe noch keinen amerikanischen oder europäischen Politiker über die menschliche Katastrophe sprechen hören. Die zerbrochenen Familien, die zerstörte Gesellschaft. Es gibt so viele Menschen, die leiden, die da draussen verbluten! Diese Menschen brauchen eine heilende Hand, ein liebendes Herz und einen mitdenkenden Verstand. Jemanden, der sie versteht und mit ihnen mitfühlt. Nicht aus Gnade, sondern aus Liebe. Wir sind alle Brüder und Schwestern in dieser Menschheitsfamilie, und ich danke „Kirche in Not“, der deutschen Regierung und allen Organisationen, die uns in unseren Hilfsbemühungen beistehen.

Der libanesische Caritas-Präsident Simon Faddoul im Interview mit „Kirche in Not“: