Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wir brauchen Werte. 16-jährige Jungen und Mädchen betrinken sich regelmässig; Minderjährige werden von Minderjährigen mehrfach vergewaltigt; Gewalt unter Jugendlichen, in den Schulen ist an der Tagesordnung. Längst macht sich ein Gefühl der Unsicherheit und Angst breit. Der gegenwärtige Wirtschaftsoptimismus hilft, das Problem zu verdrängen, löst es aber nicht. Denn: Was wird aus unserem Land, wenn es auf einer schiefen Ebene weiter in den Abgrund schlittert? Verlieren wir dann nicht mehr als nur „Moral“?
In meiner Kirchgemeinde haben mir seinerzeit ältere Frauen erklärt, sie würden es nicht mehr wagen, nachts an eine Versammlung zu kommen. Das sei zur Zeit des Weltkrieges anders gewesen. Trotz totaler Verdunkelung wegen möglicher Fliegerangriffe hätten sie als junge Mädchen keine Angst gehabt, allein durch die dunklen Strassen von Zürich zu gehen. Woher diese dramatische Veränderung? Ich meine, grundlegende Werte sind absichtlich zerstört worden. Die Philosophie der 68iger Revolution (Herbert Marcuse) bezeichnete die Familie als das System der Versklavung: Der Mann unterdrückt die Frau, die Eltern unterdrücken die Kinder. Für seine Entfaltung braucht der Mensch schrankenlose Freiheit, auch schrankenlose sexuelle Freiheit. Haben nicht viele Jugendliche von den Erwachsenen gelernt?

Enttäuschung und Wut

Als Pfarrer tut es mir weh, dass kirchliche Kreise bei dem Werteabbau, welcher der 68iger Bewegung folgte, zum Teil kräftig mitgeholfen haben. Mit dem Resultat, dass Peter Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, weitgehend Recht hatte, als er in einem Interview erklärte, die Kirchen hätten ihre Funktion zur Orientierung der Öffentlichkeit verloren. Dieser Moralabbau hat bei vielen, die die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten beobachtet haben, ein Gefühl der Enttäuschung und ohnmächtiger Wut hervorgerufen.

Was ist ein Wert?

Beginnt jetzt eine neue Zeit? Auf einmal haben Werte Hochkonjunktur. Kaum eine grosse Zeitschrift, die ihren Lesern nicht eine Wertediskussion liefert. Aber da beginnen erst die Fragen: Sind Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Höflichkeit, Toleranz, etc. gute Eigenschaften oder Werte? Sind Werte dem Wandel der Zeit unterworfen? Darf oder muss jeder seine Werte selbst wählen? Oder brauchen wir doch allgemein verbindliche Werte? Wenn ja, wer bestimmt sie? Gibt es absolut gültige, ewige Werte? Und wo finden wir sie?

Unser Ausdruck „Wert“ stammt vom mittelhochdeutschen Wort „Werder“ und bezeichnet eine Flussinsel oder einen Landstrich, der auch bei Hochwasser nicht überschwemmt wird. Auf den „Wert“ kann man also sichere Häuser bauen. Das ist hilfreich. Jede Gesellschaft lebt von festen Werten, sonst hat sie keinen Bestand. Gewiss kann und muss auch jeder für sich selbst Werte wählen, nach denen er sei Leben ausrichten will und die nicht für alle anderen Gültigkeit haben müssen. Aber für eine Gesellschaft, die sich im Wechsel der Geschichte und in den Auseinandersetzungen unserer globalisierten Wirtschaft bewähren will, sind bleibende und allgemein verbindliche Werte unverzichtbar.

Gerechtigkeit

Es gibt solche tragenden Werte. Das folgende Beispiel veranschaulicht, dass in allen Menschen ein Gefühl für Gerechtigkeit lebt. Wir erinnern uns alle an den tragischen Tod des Jungen, der auf dem Weg in den Kindergarten von Hunden angefallen und getötet wurde. Mit dem Gerichtsurteil waren nicht alle zufrieden. Für die einen war das Urteil zu hart, für die anderen zu mild. Aber es waren sich alle einig, dass Strafe sein muss. Ein Freispruch wäre undenkbar gewesen. Das bedeutet aber, dass in allen, auch den völlig Unbeteiligten, ein Rechtsempfinden lebt. Zwar kommt es häufig vor, dass unter dem Einfluss von Tradition und Kultur Menschen über ein und dieselbe rechtliche Frage zu unterschiedlichen Urteilen gelangen. Aber wir finden in allen Menschen in allen Kulturen ein Rechtsempfinden. Nicht nur das. Alle Menschen wollen, dass Gerechtigkeit auch hergestellt wird, auch wenn die Umsetzung dieses Gerechtigkeitsbewusstseins in der Praxis sehr unterschiedlich ausfallen kann. Es lebt also in allen Menschen ein moralisches Gesetz, das die Menschen nicht selbst gemacht haben. Es gibt Ordnungen, die nur von dem stammen können, der die Menschen geschaffen hat. Wer darauf baut, setzt auf einen ewigen Wert.

Kostspieliger Wertezerfall

Wer es nicht tut, muss dies teuer bezahlen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der Moralabbau hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Sozialkosten in den letzten 15 Jahren explodiert sind. Er kostet den Steuerzahler Milliarden. Aber wir können den Zerfall der Werte nicht lösen, indem der Staat immer mehr Polizei, Sozialarbeiter, Psychologen und andere Berater anstellt. Nicht, dass sie nicht nötig wären. Aber vieles ist Symptombekämpfung, eine Scheinlösung zu Lasten des öffentlichen Budgets. Wir müssen vor uns selbst und öffentlich eingestehen, dass wir ein Problem haben, nämlich ein Wertedefizit. Wir müssen das Übel an der Wurzel behandeln.
Mit unserem Magazin und unseren Hilfsaktionen wollen wir mithelfen, jene Ordnungen wieder zu entdecken, auf die wir sicher bauen können. Das sind Ordnungen, die ihren Ursprung im Schöpfer haben: Schöpfungsordnungen. Das sind keine Beschränkungen oder gar Fesseln. Im Gegenteil. Sie helfen zu einer sinnvollen Entfaltung der Persönlichkeit, zu einem ganzheitlich erfüllten Leben und gesellschaftlichen Zusammenleben in Frieden, Wohlstand und Lebensfreude. Schöpfungsordnungen sind sichere Werte. Wenn viele mittun, kann eine Neubesinnung in unserem Land gelingen.

Von Pfr. Hansjürg Stückelberger