Angesichts der globalen Verflechtung und der damit verbundenen Pluralität der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen ist die Idee der Toleranz zum Hauptgebot und zum zentralen Verhaltensprinzip avanciert, das menschliches Zusammenleben garantieren soll. Jedoch wird der Begriff heute ganz unterschiedlich gefüllt und nicht immer findet man echte Toleranz, wo Toleranz draufsteht. Es lohnt sich daher, diesem Begriff genauer nachzugehen.

Von Dr. Felix Ruther

Wenn Nietzsche recht hat und Gott tot ist, dann gibt es keinen Horizont mehr zur Orientierung, kein Oben und Unten. Dann wird auch die Rede von Wahrheit obsolet – zumindest, wenn es um mehr als reine Fakten geht. Wenn Gott tot ist, dann tritt an seine Stelle das Individuum als das Absolute.

Die Absolutsetzung des Individuums, wie wir sie in unseren Kulturen beobachten können, führt auch dazu, dass die Toleranzvorstellung neu gefüllt wird. Vormals beschrieb der Begriff die Haltung eines Menschen, der bereit ist, die Überzeugungen anderer, die er für falsch hält oder nicht teilen kann, nicht zu unterdrücken. Neu wird behauptet, dass schon das Bestreiten einer Meinung nicht zu tolerieren sei, weil damit auch die Person angegriffen werde. Wenn das Individuum zum Absoluten wird, dann kann man eben nur schwerlich zwischen Sach- und Personentoleranz unterscheiden. Doch faires Streiten würde bedeuten, dass auch bei der heftigsten Sachdiskussion kein Druck auf der Beziehungsebene ausgeübt wird. Also nicht: „Wenn du nicht …, dann kündige ich dir die Beziehung.“

Die Bejahung dieser Toleranzvorstellung spricht auch dem christlichen Glauben etwas ganz Zentrales ab. Die gute Nachricht des Evangeliums besteht ja gerade darin, dass Gott zwischen unseren Sünden und uns selber unterscheidet. Gott liebt den Sünder und hasst die Sünde. Von diesem Evangelium her wäre es aber eine Verpflichtung, einerseits die Wahrheit festzuhalten in der Liebe, die Wahrheit zu bekennen gegen den Irrtum, und andererseits gleichzeitig das Gegenüber ebenso kompromisslos unsere Zuwendung und Hilfe spüren zu lassen. Echte Toleranz weiss zwischen einer Meinung und der sie vertretenden Person zu unterscheiden. Der Meinung darf, ja muss gelegentlich widersprochen werden und zugleich muss der Person die freie Meinungsäusserung gewährt werden. Im ganz persönlichen Gespräch beginnt daher intolerantes Verhalten schon da, wo ich den anderen nicht ausreden lasse, ihm nicht recht zuhöre und ihn somit als Person nicht ernst nehme. Es ist ja gerade die Liebe, die uns gebietet, dass wir sogar einem Gegner in einem Konflikt uneingeschränktes Existenzrecht gewähren.

Gibt es Wahrheit nur im Plural?

Wenn wir an dem festhalten wollen, was wir als Wahrheit erkannt zu haben glauben, dann prallen wir heute oft auf eine weitere Vorstellung der „post-nietzscheanischen» Zeit. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, keine Orientierung am Horizont, dann muss ja zwangsläufig jede Wahrheitsbehauptung als intoleranter Versuch der Selbstbehauptung gewertet werden, oder als Versuch, sich auf Kosten anderer durchzusetzen. So ortet der italienische Philosoph Gianni Vattimo den Ursprung von Gewaltausübung in ideologischen oder religiösen Dogmen, die sich darauf berufen, ewig gültige Wahrheiten gefunden zu haben. [1] In der Tat haben oft gerade Menschen, die unduldsam ihre Dogmen vertraten, eine blutige Spur hinterlassen – die Christenheit nicht ausgeschlossen.

Nun wurde aber aus dem Kampf gegen Monopolansprüche behaupteter Wahrheiten wieder eine neue Ideologie, der Pluralismus. Er vertritt das Dogma, dass es Wahrheiten oder ethische Normen nur im Plural geben könne. Und wenn man von diesem Dogma abweicht und bestimmte Wahrheitsüberzeugungen äussert – eben glaubt, bestimmte Dinge seien wahrer als andere und bestimmte Lebensweisen besser als andere –, dann wird einem in intoleranter Weise Intoleranz vorgeworfen oder gar der Titel „Fundamentalist“ angehängt. Die Tatsache, dass ich zum Beispiel überzeugt bin, ein Leben in der Nachfolge Jesu sei richtiger als ein anderes Lebenskonzept, muss doch keineswegs – und dürfte biblisch gesehen auch nicht – dazu führen, dass ich auch nur die geringste Versuchung verspüre, meine Ansicht einem anderen aufzunötigen. Aus Liebe sollte ich klar zu unterscheiden vermögen zwischen der Macht des guten Argumentes und der Gewalt des Überredens oder Manipulierens.

Toleranz braucht einen Bezugspunkt

Eine Überzeugung als solche macht noch nicht intolerant. Im Gegenteil: Toleranz steht auf schwachen Füssen, wenn ihr nicht eine Überzeugung zugrunde liegt. Wer behauptet, der Diskurs zur Wahrheitsfindung sei nicht mehr nötig, weil alle Wahrheiten gleich gültig seien, vertritt ein bestimmtes Wahrheitsverständnis, das zwar sehr tolerant aussieht, aber bedenkliche Konsequenzen aufweist und letztlich sogar intolerantes Verhalten tolerieren wird. Toleranz braucht Regeln und kann nicht grenzenlos sein. Sie braucht ein ethisch-weltanschauliches Fundament, etwas Wahres, worauf sie sich beziehen kann, eine überindividuelle Wahrheit – etwa jene, was Menschenwürde ist. Ohne diese Wahrheit, auf die sich die Toleranz beziehen kann, ist jede Toleranzforderung sinnlos und kann rasch zur Unmenschlichkeit führen. Denn die These ethischer Gleich-Gültigkeit aller gegebenen Orientierungen und Verhaltensmuster verführt zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was Menschen mit anderen Menschen tun.

Diese nihilistische Toleranzidee scheint unser Orientierungs- und Wahrheitsbedürfnis zu überfordern. So kann Toleranz, die eine geschichtliche Reaktion auf Unduldsamkeit war, gerade diese Unduldsamkeit wieder hervorbringen. Denn wenn alles gleich gültig sein soll, führt das zu grosser Orientierungsunsicherheit und Unübersichtlichkeit. Die Folge ist oft, dass die Bereitschaft zum differenzierten Denken rasch abnimmt und man gerne den sicheren Hafen eines ideologischen und unduldsamen Welterklärungsmodells ansteuert.

Kein Gottesstandpunkt

Für eine gute Gesprächskultur scheint es zudem wichtig, „Wahrheit“ und individuellen „Wahrheitsanspruch“ nicht gleichzusetzen. Auch die Bibel unterscheidet zwischen den Botschaftern, der Botschaft und Gott, als Sender der Botschaft – im Unterschied zu allen ideologischen und fundamentalistischen Besserwissern, die so etwas wie einen Gottesstandpunkt für sich behaupten und glauben, die Wahrheit oder ein Wahrheitsmonopol zu besitzen. Doch wer von sich meint, er stehe ausserhalb der menschlichen Irrtumsfähigkeit und könne von oben auf die anderen Meinungen schauen, der masst sich eine Position an, die nur Gott zusteht.

Biblisch gedacht, erschliesst sich Wahrheit erst im Lebensvollzug, und zwar im gemeinsamen Unterwegssein und in der kritischen Erörterung mit den Geschwistern, die vor uns gelebt haben oder neben uns leben. Zudem steht jede Erkenntnis der Wahrheit unter einem eschatologischen Vorbehalt. Denn vor der endgültigen Offenbarung Gottes ist unsere Erkenntnis immer nur vorläufig und Stückwerk. [2] Selbst wenn Wahrheiten einen göttlichen Ursprung beanspruchen, müssen sie geprüft werden. [3] Denn auch die biblische Tradition weiss um die Möglichkeit der Inbesitznahme von Gott durch den Menschen.

Vom indogermanischen Stamm „tel“ bedeutet Toleranz ein mutiges Aufsichnehmen von Druck oder Lasten. Das ist nicht immer einfach. Dennoch sollten wir mit einer tiefen, eigenen Überzeugung liebevoll mit Menschen mit anderen Weltsichten echt im Gespräch bleiben. Das wäre ein kleiner Schritt zur Sichtbarwerdung von Gottes Reich.

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Dr. Felix Ruther, Naturwissenschaftler und Theologe, ist Mitbegründer des Magazins INSIST und freier Mitarbeiter bei den Vereinigten Bibelgruppen VBG.

[1] Vgl. Vattimo, Gianni, Jenseits vom Subjekt, Graz 1986, S. 25

[2] Vgl. 1 Kor 13, 9-13

[3] Vgl. 1 Kor 14, 29