Der Europäische Gerichtshof in Strassburg ist für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention verantwortlich. Durch seine progressive Rechtsprechung schafft er zunehmend „neue Menschenrechte“, die auch vom Schweizer Bundesgericht übernommen werden. Was auf den ersten Blick harmlos erscheint, hat beim näheren Hinsehen beträchtliche Folgen für unser Land.

Ein Kommentar von lic. iur. Ralph Studer

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein internationaler Vertrag zwischen Staaten. Mit dem Beitritt zum Europarat im Jahr 1963 und der Ratifizierung der EMRK 1974 sind die Grundrechte der EMRK auch für die Schweiz verbindlich und ebenso unmittelbar anwendbar wie die Grundrechte unserer Bundesverfassung. Nach dem Grundsatz von „Treu und Glauben“ wäre der Europäische Gerichtshof (EGMR) gehalten, die EMRK-Bestimmungen eng auszulegen, um den Staaten keine Verpflichtungen aufzuerlegen, denen sie nicht tatsächlich vorab und ausdrücklich zugestimmt haben. Der EGMR sieht dies jedoch anders und gesteht dies auch offen ein.

EGMR verändert die Menschenrechte

Der EGMR wirkt wie eine Art Katalysator, der die Fortentwicklung der Menschenrechte vorantreibt und über den Willen der Staaten hinausgeht. Dies lässt sich an seiner Rechtsprechung deutlich erkennen. So hält er fest, dass die EMRK ein „lebendiges Instrument“ ist und jederzeit „im Lichte der heutigen Gegebenheiten“ ausgelegt werden kann. In einem anderen Urteil betonte er den „dynamischen und evolutiven Zugang beizubehalten“. Dieses Vorgehen des EGMR ist für die Vertragsstaaten verheerend: In den vergangenen Jahrzehnten hat der Gerichtshof schrittweise den Gehalt der EMRK-Menschenrechte nach eigenem Gutdünken geändert bzw. erweitert, was früher den Vertragsstaaten überlassen war. Die auf diese Weise neu geschaffenen Rechte verpflichten die Vertragsstaaten – ohne ihr Mittun – und untergraben so ihre staatliche Souveränität.

Berechtigte Kritik vor allem aus Osteuropa

Vor allem Länder des ehemaligen Ostblocks wehren sich gegen diese Auslegung von „neuen Menschenrechten“. Kritik wird laut, dass diese ein antidemokratisches Machtinstrument seien und als Mittel zur Auflösung von familiären, religiösen, kulturellen und nationalen Zugehörigkeiten angewandt werden. Bereiche wie die Gleichstellung verschiedener Partnerschaftsmodelle und die Anerkennung von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten konnten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht durchsetzen. Heute gelten diese dank der Rechtsprechung des EGMR als „neue Rechte“.

Folgen für die Schweiz

Je nach richterlicher Zusammensetzung des EGMR besteht die Gefahr, dass der Gerichtshof zunehmend seine rechtliche Überwachungsfunktion verliert und zum politischen Instrument mutiert. Die Ausweitung des „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ von Art. 8 EMRK ist ein alarmierendes Beispiel, was noch alles auf uns zukommen könnte: Im Jahre 2002 hat der EGMR die Selbstbestimmung als „wichtigen Grundsatz, der der Auslegung der Garantien des Art. 8 EMRK zugrunde liegt“, eingestuft. Seither relativieren private Wünsche und Begehrlichkeiten aller Art die Rechtsordnung und bislang verbotene Handlungen – wie Abtreibung und Euthanasie – werden dem privaten Bereich zugeordnet und so zunehmend legalisiert.

Diese „ausufernde“ Rechtsprechung des EGMR hat weitere fatale Folgen. Die Erweiterung der (sexuellen) Rechte – wie das Recht auf geschlechtliche und sexuelle Identität –, die von den Mitgliedstaaten bei der Verabschiedung der EMRK überhaupt nicht vorgesehen waren, führen faktisch zu einer Verfassungsänderung in der Schweiz. Grund hierfür ist, dass die Freiheitsrechte der Bundesverfassung und der EMRK praktisch deckungsgleich sind und das Schweizer Bundesgericht bemüht ist, diese mit der EGMR-Rechtsprechung in Einklang zu bringen. So schlägt die Rechtsprechung des EGMR auf die Schweizer Verfassung durch und ändert diese, ohne dass Volk und Stände mitbestimmen können. Der EGMR und mit ihm das Schweizer Bundesgericht fungieren so faktisch als (nationale) Verfassungsgeber und verletzen die rechtsstaatlichen Vorgaben, insbesondere auch die für eine Demokratie grundlegende Gewaltenteilung.

Rückbesinnung auf ihre Aufgabe

Die Rolle der EGMR-Richter wäre es, die Politik zu kontrollieren und sicherzustellen, dass Regierungen und Parlamente die fundamentalen Menschenrechte und Werte respektieren. Es ist allerdings nicht ihr Auftrag, neue Rechte zu schaffen, politisch zu agieren und unter Ausschaltung des nationalen Verfassungsgebers die EMRK nach ihren persönlichen Vorstellungen „dynamisch“ weiterzuentwickeln. Dies ist eine klare Überschreitung ihrer Kompetenzen und eine Verletzung der schweizerischen Souveränität und unserer Volksrechte. Neben einem Austritt aus der EMRK gibt es keine wirklich griffigen Mittel, um etwas gegen diese missbräuchliche richterliche Amtsausübung zu unternehmen. Dieser Zustand ist alles andere als befriedigend. Es ist deshalb höchste Zeit, dass die Richter des EGMR sich ihrer ureigensten Aufgabe wieder selbst bewusst werden und dem Rechtsstaat und der Gewaltenteilung wieder in gebührender Weise Rechnung tragen.

 

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