Welche Würde zählt am Lebensende? Diese Frage habe ich mir gestellt, als die Waadtländer am 17. Juni 2012 für die Zulassung des assistierten Suizids in Pflegeeinrichtungen stimmten. Für eine Pflegefachperson, deren ethisches Fundament es ist, das Leben zu fördern, bedeutet dies nämlich einen tiefgehenden Umsturz ihrer Werte. Seit Anfang der 80er-Jahre bin ich nun schon in der Pflege tätig. Doch hätte ich es nie für möglich gehalten, dass es irgendwann so weit käme, Patienten an diesem Arbeitsplatz bei der Selbsttötung behilflich zu sein.

Von Yvan Bonjour

Sowohl in der Bevölkerung wie auch unter den verschiedenen Berufsfachleuten im Gesundheitsbereich herrscht grosse Ahnungslosigkeit, wenn es um den Begriff „Lebensende“ geht. Ein paar traditionelle Prinzipien genügen heute nicht mehr, um zu zeigen, dass die zunehmende Praxis der assistierten Selbsttötung eine schlechte Wahl für unsere Gesellschaft ist. Sinnverlust, die grosse Angst vor Abhängigkeit, die zahlreichen Tabus rund um den Tod sowie der zunehmende Drang, alles selbstbestimmt kontrollieren zu wollen, können die Ausweitung dieser einschneidenden Praxis nur teilweise erklären.

Sterbehilfe oder Selbsttötungshilfe?

Oft, v.a. auch in den Medien, werden diese beiden Begriffe vermischt. Das ist doch nur ein Detail, denkt man vielleicht, da am Ende das Resultat ja schliesslich dasselbe zu sein scheint. Jedoch besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen den beiden Begriffen: Sterbehilfe meint eigentlich die Begleitung des Kranken im Respekt vor seinem biologischen Prozess und unter Gewährung eines „Maximums“ an Wohlbefinden, ohne sein Leben unter allen Umständen verlängern zu wollen. Der Tod tritt hier natürlicherweise ein. Selbsttötungshilfe hingegen bezeichnet den willentlichen Eingriff in den natürlichen Prozess durch die Einnahme eines tödlichen Mittels. Der Tod ist folglich nicht natürlich, sondern wird „gewaltsam“ herbeigeführt. Darum eröffnet die Polizei jedes Mal eine Untersuchung, wenn jemand durch assistierten Suizid zu Tode gekommen ist.

Die richtige Wahl treffen

Heute kann jeder, der nicht mit allen medizinisch zur Verfügung stehenden Mitteln sein Leben verlängern möchte, diese ebenso unausweichliche wie sensible Phase ein Stück vorausplanen und damit letztlich auch einen Suizid verhindern. In seinem neuen Kapitel über den Erwachsenenschutz hält das Schweizer Zivilgesetzbuch fest: „Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.“ (Art. 370) Die Patientenverfügung ist ein sicheres Mittel, das unsere menschliche Natur respektiert und Ärzten bei Entscheidungen hilft, wenn man nach einem Unfall oder aufgrund einer Krankheit nicht mehr in der Lage ist, sich in irgendeiner Weise verständlich zu machen. Dann werden auch Organisationen wie Exit schliesslich überflüssig. [1]

Solidarisch bis ans Ende

Hüten wir uns davor, die Gründertexte unserer christlichen Gesellschaft zu vergessen, welche eine Kultur der Freiheit und der Verantwortung ist: „Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“ (Bundesverfassung). Solidarität ist nicht eine leere Worthülse. Im Gegenteil: Solidarität ist das richtige Mittel für schwierige Situationen. Sie macht unsere Umgebung lebenswert und hilft uns, gemeinsam die Hindernisse zu überwinden, mit denen wir alle früher oder später konfrontiert sein werden.

Yvan Bonjour, Pflegefachmann, ist Autor des unter dem Namen Jeremy Recab (in Anlehnung an das biblische Buch Jeremias, Kapitel 35) publizierten Buches: Quelle dignité pour la fin de vie?, Albin Michel, 2016.

[1] Die Stiftung Santonomia (Abkürzung für: Santé, Anticipation, Autonomie) ist z.B. eine Stiftung, die mit dem Ziel gegründet wurde, die Mittel zu fördern, zu unterstützen und anzuwenden, die unser Zivilrecht bietet: www.santonomia.ch