Seit uralten Zeiten ist die Rebe ein enger Begleiter des Menschen und seines Schicksals. Meine Berufung zum Winzer brachte mich schon früh mit dieser sonderbaren Pflanze in Verbindung. Seither hat mir die Rebe, einem Lehrmeister gleich, manche unvergessliche Lektion fürs Leben beigebracht.
Die erste grosse Offenbarung wurde mir zweifellos bei einer praktischen Übung während meines Studiums zuteil. Mit grosser Sorgfalt schnitt ich damals mit einem Skalpell eine Knospe mit einem Längsschnitt auf. Als ich sie dann unters Mikroskop hielt, zeigten sich mir alle Organe der Rebe, fein säuberlich eingepackt in einen Wattebausch. Der Trieb, die Blätter und die Trauben, die Spitzen und die Ranken! So ist also fast ein Jahr vor dem Austrieb schon alles bereit. Und es fehlen nur noch der aufsteigende Saft und die Wärme, die zu gegebener Zeit den Zweig und die Traube sich schnell entfalten lassen. Bei dieser ersten Erfahrung habe ich die Lektion gelernt, meine Arbeiten und jede neue Saison gut im Voraus zu planen! Und es wurde mir dabei auch die wunderbare, herrliche Schöpferkraft Gottes bewusst.

Verborgene Hoffnungen

Meine zweite grosse Lektion erteilte mir die Rebe am 18. Juli 2005 um 14 Uhr und in der Zeit danach. Der gleich einem ohrenbetäubenden Trommelwirbel über den See peitschende Hagelschauer kündete die nahe Katastrophe an. Ein ebenso überraschender wie heftiger Sturm entwurzelte hundert Jahre alte Bäume und vernichtete den Weinberg und das Versprechen einer reichen Ernte fast vollständig. Schockiert irrte ich nach dem Ereignis zwischen den freiliegenden Wurzelstöcken umher, verzweifelt und mir die schrecklichen Konsequenzen des Desasters ausmalend …

In diesem Jahr brachte mir der Weinstock bei zu hoffen. Denn nur zwei Monate nach dem verheerenden Ereignis erwachten tief verborgen im alten Holz der entblössten Rebstöcke schlafende Knospen und tauchten mit ihrem Wachstum die verwüstete Landschaft in neues Grün. Da musste ich an die zukünftigen Stürme meines Lebens denken und fasste die Hoffnung, in solchen Situationen ebenfalls versteckt in meinem Inneren die notwendigen und noch unbekannten Kräfte zu entdecken, die mir helfen würden, durchzuhalten.

Verborgene Schwäche und Empfindlichkeit

Ich habe lange gebraucht, um zu entdecken, wie eine Rebenblüte aussieht. So eindrucksvoll und gewaltig die Kraft und das Wachstum dieser Pflanze sind, so klein und unscheinbar ist ihre Blüte. Man kann an dem Rebstock vorbeigehen, ohne sie zu entdecken! KeineKrone aus Blütenblättern in leuchtenden Farben! ist Dazu ist die Rebenblüte zwittrig und verzichtet sogar auf die Arbeit der Bienen. Die Liane erweist sich in den meisten Situationen, die sie durchleben muss, als resistent gegen alle Schwierigkeiten; und doch kennt auch sie Momente grosser Verletzlichkeit, wie zum Beispiel während der Blütenzeit. Die Empfindlichkeit der Blüte ist so gross, dass ein einziger Windstoss oder nasses, regnerisches Wetter ausreicht, um die ganze Ernte zu gefährden. Auf diese Weise lehrte mich die Weinrebe, dass es in allem Dasein Momente der Schwäche und der Empfindlichkeit gibt, die man erst lernen muss zu entdecken und denen man besondere Aufmerksamkeit schenken sollte.

Der Anblick der Schweizer Weinberge bietet eine atemberaubende Vielfalt an Landschaften. Die besondere, schon Jahrhunderte andauernde Pflege dieser Kultur durch Familien, die häufig bereits seit mehreren Generationen mit Leidenschaft am Werk sind, machen aus ihnen einen idealen Ort der Ruhe und der Erholung für unser oft gestresstes und ungezügeltes Leben. Versäumen Sie es nicht, an diesen sonnigen Hängen spazieren zu gehen und mit den ansässigen Winzern ins Gespräch zu kommen. Ohne Zweifel werden auch diese Ihnen eine Lehre fürs Leben mit auf den Weg geben!

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Alain Chollet ist 49 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Nach dem Erwerb des Eidgenössischen Fachausweises für Winzer im Jahre 1983 begann er seine Ausbildung an der höheren Fachschule für Weinbau in Changins/Nyon VD und erwarb dort 1986 die Diplome in Weinbau und Önologie. 1992 hat er die Verantwortung für das 3 ha umfassende Weingut der Familie Le Daley in Lutry VD übernommen.

Von Alain Chollet