Die Autorinnen Ronya Othmann und Juliane Liebert berichten in der „Zeit“ von der Abstimmung zum Internationalen Literaturpreis, der jährlich vom Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin vergeben wird. Beide waren in der Jury, die zunächst eine grobe Auswahl (Longlist), dann eine gekürzte Auswahl (Shortlist) und anschliessend den Sieger prämieren sollte. Bei der Abstimmung sei es im Frühjahr 2023 allerdings zu Zwischenfällen gekommen, die sich beide nicht hätten vorstellen können.

Nachdem die Jury-Mitglieder ihre Punkte zur Shortlist vergeben hatten, waren Einzelne mit der Abstimmung nicht zufrieden. In der Auswahlliste: „Ein senegalesischer Autor, der auf Französisch schreibt und in Paris lebt, eine südkoreanische Autorin, die in den USA lebt, eine russische Autorin, die mittlerweile im Berliner Exil lebt, eine belarussische Autorin, eine mexikanische und eine französische.“ Somit wären ein Mann und fünf Frauen nominiert gewesen.

Eine Jurorin war mit dieser Liste nicht einverstanden, denn danach wären drei schwarze Frauen, die zuvor weniger Punkte bekommen hatten, ausgeschieden, während es „eine weisse Französin (Mariette Navarro)“ in die Shortlist geschafft hätte. Sie würde daher Navarro ihre Stimme entziehen und ihre Punkte einer der drei schwarzen Autorinnen geben; andere Jury-Mitglieder schlossen sich dem an.

Man liebäugelte mit Cherie Jones, „deren Buch vorher einige als ‚Gewaltporno‘ und ‚netflixstyle‘ abgelehnt hatten“. Einen weiteren, punktgleichen Autor gab es mit Péter Nádas, dessen Buch viele vorher als Meisterwerk bezeichnet hatten. Die Diskussion entspann sich aber um das vermeintliche Problem, dass Nádas „nun mal ein vom Feuilleton geliebter, privilegierter weisser Autor“ sei.

„Politisch muss man halt Cherie Jones wählen“

Othmann führte an, dass Nádas aus einer jüdischen Familie stamme, obendrein noch einige Jahrzehnte real existierenden Sozialismus hinter sich habe und auch jetzt in Viktor Orbáns Ungarn nichts zu lachen habe. Es sei ihr unangenehm, dieses ins Feld zu führen, weil es mit dem Werk an sich nichts zu tun habe, sah sich angesichts der Diskussion jedoch dazu gezwungen. „Nádas ist der bessere Autor, aber politisch muss man halt Cherie Jones wählen,“ hiess es am Ende. Nach einem weiteren verbalen Schlagabtausch sagte ein anderer Juror zu Liebert: „Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger.“

Die Mitarbeiter des HKW, die der Sitzung beiwohnten, griffen nicht ein, obwohl die Kriterien des Preises („Die Einreichungen werden nicht nach dem Ansehen von Autor*in / Übersetzer*in beurteilt, sondern nach der Qualität des Buches. (…) Die Einreichungen werden ohne Bevorzugung oder Vorurteile in Bezug auf Verleger*in, Herausgeber*in, Autor*in, Übersetzer*in, Nationalität, ethnische Zugehörigkeit sowie politische und religiöse Ansichten bewertet.“) nicht eingehalten wurden.

„Du als weisse Frau hast hier eh nichts zu sagen!“

Einige Wochen später fand die finale Jury-Sitzung statt, da wurde Mohamed Mbougar Sarr mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ausgezeichnet. Doch auch diese Wahl wurde hitzig diskutiert, denn nun bemängelten einige Jury-Mitglieder die Hautfarbe der beiden Übersetzer: „Denn weisse Menschen könnten generell keine schwarzen Autoren übersetzen.“ Zwar habe der schwarze Autor das N-Wort selbst verwendet, um die Diskriminierung seiner Figur zu zeigen, die weissen Übersetzer dürften es aber nicht reproduzieren. Eben dieses habe einer bei einer Lesung angeblich getan.

Wie Liebert berichtet, wurde sie angefahren: „Du als weisse Frau hast hier eh nichts zu sagen!“ Für die Jury zum diesjährigen Preis wurden Othmann und Liebert dann nicht wieder aufgestellt, viele andere der 2023er-Jury hingegen schon – das habe einen Beigeschmack hinterlassen.

Typische aktuelle Tendenz in der Kultur

Die Vorgänge 2023 seien typisch für die aktuelle Tendenz in deutschen Kulturbetrieben, sagen Othmann und Liebert: „Es wird ja ohnehin oft gemunkelt, wenn ein queerer, migrantischer oder sonst wie marginalisierter Autor gewinnt, dass es an seiner Identität und nicht am Werk lag – selbst wenn in der Jury nach literarischen Kriterien prämiert wurde. Eine Praxis, so wie wir sie in der HKW-Jury erlebt haben, schadet am Ende auch diesen Autorinnen und Autoren. Wir waren angetreten, um zu lesen und die literarische Qualität von Kunstwerken zu beurteilen. Wir mussten dann erleben, wie stattdessen im entscheidenden Moment diskutiert wurde: Es ging um Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, um Politik und nicht um Literatur. Wieso haben wir denn all die isländischen, spanischen und rumänischen Autoren gelesen, wenn sie am Ende ohnehin nicht infrage kommen?“

Quelle: VDS, zeit.de