In der Türkei haben die politischen Parteien vor Ostern ihre Wahlkampfbudgets und ihre Listen für die Parlamentswahlen am 12. Juni veröffentlicht. Sie werden hunderte Millionen Euro für Medien-Werbung, Flugblätter und Parteifähnchen ausgeben. Zum ersten Mal seit langem stellen sich auch wieder christliche Kandidaten auf. Das ist bei allen grösseren Parteien und noch dazu auf aussichtsreichen vorderen Plätzen der Fall: Die islam-demokratische Regierungspartei AKP hat zwei Armenier sowie je einen orthodoxen Griechen bzw. Syrianer aufgestellt, die dem säkulären Erbe Atatürks verpflichtete CHP immerhin einen Armenier. Ein solcher figuriert auch als Kandidat der türkisch-nationalistischen MHP. In ihren radikalen Reihen erfüllt dieser aber kaum mehr als eine Alibifunktion, um den Vorwurf zu entkräften, dass diese Partei anti-armenischen und anderen Rassismus propagiert.
Zurzeit nimmt in allen Lagern die Rückbesinnung auf die relativ tolerante Türkei des osmanischen Islams überhand. Parallel zur Karwoche wird von staatswegen eine „Heilige Woche“ rund um den Geburtstag von Mohammed gefeiert. Ministerpräsident Ergogan führt dabei das grosse Wort. Doch auch der „kemalistische“ Oppositionsführer Kilicdaroglu stellt den „edlen Propheten“ über das bisher bestimmende Atatürk-Idol. Im Zuge dieser Politik – und nicht nur wegen der türkischen Beitrittsbemühungen zur EU – werden freundliche Gesten in Richtung jener christlichen Gemeinschaften gesetzt, die sich unter den osmanischen Sultanen einer privilegierten Stellung erfreuten. Das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel, lang von Ankara praktisch zum Aussterben verurteilt, erfreut sich neuen Entgegenkommens – ein Armenier wird die Türkei als Botschafter bei der Weltwirtschaftsorganisation OECD in Paris vertreten. Das Osmanische Reich hatte sogar armenische Aussenminister gehabt, bevor die türkischen Armenier von Panislamisten und Jungtürken fast ausgerottet wurden.

Die orthodoxen Syrianer – sie nennen sich heute selbst Assyrer oder Chaldäer – gehörten nicht zu den bevorzugten „Religionsvölkern“ der Osmanen. Ebenso schlecht werden sie auch heute behandelt: Ihrem Kloster Mor Gabriel in der Südosttürkei hat eben erst das Höchstgericht in Ankara fast den gesamten Grundbesitz aberkannt. Diesen braucht es aber, um fortbestehen zu können.

Noch schlimmer dran sind in diesem türkischen Wahlkampf die evangelischen Christen. Bei ihnen handelt es sich fast nur um Türken. Evangelisch gewordene Griechen und Armenier mussten die Türkei schon 1922/23 zusammen mit den Orthodoxen verlassen. Die neuen christlich-türkischen Gemeinden wachsen langsam, zählen aber erst um die 3‘000 Mitglieder. Manchen türkischen Politikern ist aber selbst das viel zu viel. So dem Chef der national-säkulären „Demokratischen Partei“ (DP), Namik Kemal Zeybek. Er will ein Evangelisierungsverbot durchsetzen, falls seine Partei im neuen Parlament von Ankara auch nur halbwegs stark vertreten sein sollte.

Die türkischen Evangelischen sind überhaupt in einer schwierigen Lage. Eigentlich sollten sie als Landsleute willkommener sein als fremdsprachige Griechen, Armenier und Syrianer. Andererseits kreiden ihnen auch sonst areligiöse Türken die Konversion vom Islam zum Christentum an; denn selbst für die säkulären türkischen Nationalisten stellt das islamische Glaubensbekenntnis neben Sprache und Abstammung das Hauptmerkmal dafür dar, was einen „richtigen Türken“ ausmacht.

Von Heinz Gstrein