Das noch vor zwei Jahren so akute Thema Minarett findet zurzeit kaum mehr Beachtung. Doch die Beruhigung ist trügerisch. Eben wurde in der Türkei zum ersten Mal seit Jahrhunderten eine museale, aber für christliche Gottesdienste wieder geöffnete Kirche zur Moschee gemacht; durch ein Minarett, das man vor der altchristlichen Basilika anbrachte.
An diesem mehrtägigen Opferfest des Kurban Bairam bis 12. November ruft auf einmal der Muezzin zum Korangebet in die altehrwürdige Konzilskirche von Nicäa, dem türkischen Iznik. Letzte Christen aus Istanbul, die mit ihrem Patriarchen Bartholomaios I. wie schon öfters seit dem Jahr 2000 am 5. November in dieser „Heiligen Weisheit“ (Hagia Sophia) von Nicäa beten wollten, blieben ausgesperrt.

Dabei handelt es sich um das älteste christliche Gotteshaus dieses Namens aus dem 6. Jahrhundert, erbaut noch vor der grossen Hagia Sophia von Konstantinopel. In dieser Kirche fand 787 das 7. Ökumenische Konzil statt, die letzte allgemeine Kirchenversammlung der noch ungeteilten morgen- und abendländischen Christenheit. Als die osmanischen Türken Nicäa 1331 eroberten, machten sie nach islamischem Eroberungsrecht die Kathedale der Stadt zur Moschee, während sie die kleinere Marienkirche den ansässigen Christen beliessen. Unter den Sultanen verblieb in Nizäa-Isnik eine starke christliche Gemeinde bis ins 20. Jahrhundert. Als nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im 1. Weltkrieg die Griechen den Ort 1920 besetzten, wurde die Hagia Sophia von Nicäa wieder zur Kirche gemacht.

Schlimmer als die Osmanen vertrieben 1922 die irregulären Banden von Kemal Atatürk alle Christen aus Isnik, zerstörten sämtliche Gotteshäuser von der Göttlichen Weisheit bis zur Marienkirche. Erst die heutige politische Führung in der Türkei erlaubte christliche Zeremonien in den Ruinen. Die Hagia Sophia wurde 2007 wiederhergestellt, zum Museum erklärt, und gleichzeitig auf eine Liste „öffentlicher Gebäude“ gesetzt, in denen christliche Kulthandlungen nach Anmeldung und Genehmigung regelmässig stattfinden dürfen.

Die jetzige Rückwidmung zur Moschee durch die staatliche Islamische Kultusbehörde verwandelt die bisherige positive Entwicklung ins Gegenteil. Sie bedeutet, dass Ministerpräsident Erdogan seine Islamisten nicht völlig unter Kontrolle hat, eine Hand nicht wissen will, was die andere tut. Noch wahrscheinlicher ist aber, dass die Regierung in Ankara genau weiss, was sie anstrebt. Ihr Ziel ist es, nicht etwa den Christen oder der EU entgegenzukommen, sondern die alte osmanische Grösse und Glorie zu erneuern. Das bedeutet zwar, dass den heute statt einst Millionen nur mehr 70‘000 türkischen Christen da und dort eine Kirche, eine Institution oder Immobilie zurückgegeben wird, die sie in den Jahrzehnten völliger Rechtlosigkeit unter Kemal Atatürk und seinen Epigonen verloren hatten; wie es etwa das Rückerstattungsgesetz vom letzten September vorsieht. Zurück ins Osmanentum bedeutet aber vor allem die Degradierung der Christen – und Juden – zu Staatsbürgern zweiter Klasse und die Einsetzung des Islams in alle seine alten Rechte, die ihm die areligiösen Kemalisten genommen hatten. So wäre es nur eine konsequente Weiterführung des jetzt mit der Hagia Sophia von Iznik Begonnenen, wenn demnächst auch die Hagia Sophia in Istanbul vom Museum wieder zur Moschee gemacht würde. Schon jetzt fordern das Erdogans strikt islamische Gefolgsleute für den 23. Mai 2012, den Jahrestag der Einnahme von Konstantinopel 1453 durch Sultan Mehmet II.

Von Heinz Gstrein