Toleranz ist ein Begriff, der in der heutigen Zeit oft fällt. Kaum ein Vorwurf erscheint schlimmer als der der Intoleranz. Geht es um neue Lebensformen, Verhaltensweisen, Einstellungen oder auch Religionen, so heisst es: „Da muss man tolerant sein. Toleranz ist wichtig.“ Es ist richtig: Toleranz ist wichtig. Doch reden wir alle von der gleichen Toleranz?
Um etwas Klarheit in Bezug auf diesen schwammigen Begriff zu bekommen, ist es hilfreich, ihn sich einmal näher anzusehen. „Toleranz“ kommt vom lateinischen „tolerare“ und bedeutet „erdulden, ertragen“. Das heisst, wenn ich etwas toleriere, ertrage ich es, auch wenn es mir nicht unbedingt gefällt. Doch wie weit darf Toleranz gehen? In politisch-gesellschaftlichen Diskussionen sind die Grenzen oft vage. Um einiges genauer sind da Techniker und Naturwissenschaftler: „Die Toleranz bezeichnet den Zustand eines Systems, in dem eine von einer störenden Einwirkung verursachte Abweichung vom Normalzustand noch keine Gegenregulierung notwendig macht oder zur Folge hat. Im engeren Sinn ist Toleranz das Ausmass der Abweichung einer Grösse vom Normzustand, das die Funktion eines Systems eben noch nicht gefährdet.“ (Wikipedia)

Wann wird es kritisch?

Ein Haus oder ein Auto bricht demzufolge also zusammen, wenn die Teile, aus denen es besteht, ihre Toleranzschwelle überschreiten. Ebenso ist es in der Ökologie: Wird der kritische Wert eines Organismus in Bezug auf einen bestimmten Umweltfaktor überschritten, so ist der Organismus nicht mehr lebensfähig. Hinsichtlich unserer Gesellschaft müssen wir uns also fragen: Wie viel Abweichung vom Normzustand verträgt unser System „Gesellschaft“, bevor es eine Gefährdung, ja gar einen Zusammenbruch gibt? Wo liegt unser kritischer Wert, wie viel kann ertragen, erduldet, eben „toleriert“ werden?

Bassam Tibi, Professor für internationale Beziehungen und moderater Moslem, appelierte vor kurzem bei einem Vortrag in Zürich in Bezug auf Europa: „Toleranz hat Spielregeln. Toleranz im Sinne von ‚Anything goes‘ ist der Untergang!“ Es können also weder alle auftretenden Konflikte gelöst und alle Fragen beantwortet werden, noch sind alle Rechte und Freiheiten geschützt, wenn wir einfach Toleranz üben und das zulassen, was jeder sich für sein Leben vorstellt. Toleranz braucht Normen und Werte, an denen sie sich festhält. Prof. Dr. Kurt Krenn, Weihbischof der Erzdiözese Wien, erkannte das bereits vor 20 Jahren, als er analysierte: „Wenn Toleranz nur die Methode des konfliktfreien Umgangs ohne jede übergeordnete Norm und ohne jedes Wertprinzip sein will, wird sich die Toleranz nicht vor dem Missbrauch ihrer selbst schützen können“. Denn das führe dazu, „dass diejenigen am meisten für sich Toleranz fordern, um sie anderen nicht zu gewähren.“

Werte und Normen nicht relativieren

Aktuell erleben wir dieses Problem, wenn etwa islamische Vertreter in Europa für ihre Religion und Ideologien Toleranz fordern und im gleichen Atemzug die Scharia, das islamische Gesetz, einführen wollen, in welchem sich immer wieder die Intoleranz gegenüber Ändersgläubigen zeigt. Wenn wir Toleranz auf die Intoleranten ausdehnen, verschwindet die Toleranz. Unsere Normen und Werte, an denen sich die Toleranz festhält, dürfen deshalb nicht relativiert werden, auch nicht im Namen der Toleranz.

Toleranz ist einer unserer wichtigsten Grundwerte, auch wenn uns nicht immer gefällt, was wir zu tolerieren haben. Doch wir dürfen Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit verwechseln. Und wir haben darauf zu achten, dass die „zulässige Abweichung unserer Normwerte“ nicht überschritten wird. Diese Normen und Werte haben ihre Grundlage im biblischen Menschenbild und finden sich in unseren demokratischen Formen wieder. In der Schweiz haben wir noch einen starken Konsens über diese Normen und Werte. Diese dürfen nicht ausser Kraft gesetzt werden unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen Toleranz. Hilfreicher ist echte Toleranz, d.h. den Menschen auf Augenhöhe begegnen, aber in einem klaren, deutlichen Diskurs. Friedrich Nietzsche sagte einmal: „Toleranz ist die Unfähigkeit, ja oder nein zu sagen.“ Befreien wir uns aus dieser Unfähigkeit und lernen wir wieder, echte Toleranz zu üben.

Von Beatrice Gall