Viele Anhänger der Tierrechts- und Klimabewegung sind mittlerweile der Ansicht, es wäre besser, es gäbe den Menschen nicht. Was spricht noch für den Homo sapiens?

Von Dominik Lusser

Die Ausbeutung und Verschmutzung der Erde, die sich der Verantwortung für die künftigen Generationen verweigert, ist ein Übel unserer Zeit. Gegen den Ungeist unserer materialistischen High-Tech-Kultur, der sich in Konsum und Verwertung von Natur und Mensch erschöpft, regt sich berechtigter Widerstand. Nicht selten kippt das Bemühen, Mensch und Natur wieder besser in Einklang zu bringen, allerdings in ein entgegengesetztes Extrem.

Tierrechtsgruppen begingen am 29. August 2020 zum 6. Mal den „Welttag für das Ende des Speziesismus“. Unter diesem Begriff verstehen marxistisch inspirierte Ideologen die moralische Ungleichbehandlung von Lebewesen aufgrund der Tatsache, dass sie nicht zur Art (Spezies) Mensch gehören. Antispeziesisten fordern, dass alle empfindungsfähigen Wesen bei moralischen Entscheidungen dasselbe Gewicht haben sollten. Demnach stelle es, so die Basler Tierforscherin Angela Martin im Januar 2020 in der NZZ, ein ethisches Dilemma dar, ob ein Bauer zuerst seine Kühe oder seine Kinder aus dem brennenden Stall rette.

Sprache, Denken, Freiheit

Es geht also um weit mehr als um die Beendung grausamer Formen der Tierhaltung. Indem sie den Speziesismus mit Rassismus und Sexismus vergleichen, bestreiten die Antispeziesisten letztlich, dass es zwischen Mensch und Tier überhaupt wesentliche, für die moralische Praxis relevante Unterschiede gäbe. Damit verlassen radikale Tierschutzaktivisten den Boden der Wissenschaft, die noch bei keinem Tier z.B. eine umfassende Sprachfähigkeit nachweisen konnte. Gemeint ist nach Auskunft des Schweizer Philosophen Dominik Perler die Fähigkeit, Gedanken zu bilden und sie auf logisch-konsistente Weise miteinander zu verknüpfen. Wer Sprache besitze, könne über Abwesendes und noch nicht Existierendes reden, erläutert der Professor der Berliner Humboldt-Universität. Erst das versetze uns in die Lage, Pläne zu schmieden und Ziele zu setzen, was unseren Horizont im Gegensatz zu Tieren enorm erweitere.

Auch Freiheit ist Tieren fremd. Denn auch sie setzt wie die Liebe – die nicht bloss eine flüchtige Empfindung und Emotion, sondern eine überlegte freie Entscheidung ist – Denken voraus. Perler nennt nämlich zwei Bedingungen für Freiheit: „die Möglichkeit, zwischen Optionen zu wählen, und die Fähigkeit, Gründe für das eigene Handeln zu liefern.“ Bei der Wahl-Möglichkeit von Tieren ist der Philosoph skeptisch. Bezüglich der Fähigkeit, Gründe zu liefern, steht für ihn fest, dass Tiere dies nicht könnten. „Ohne Sprache keine Gedanken, ohne Gedanken keine Gründe und ohne Gründe keine Freiheit.“ 

Nichtsdestotrotz denken mittlerweile viele Anhänger der Tierrechts- und Klimabewegung, dass es besser wäre, der Mensch würde überhaupt nicht existieren. Die GINK-Bewegung (Green Inclination, No Kids) wirbt z.B. dafür, aus Rücksicht auf das Klima keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Auch die Corona-Krise wurde von vielen Bürgern als Rache der Natur am bösen Menschen interpretiert. Und nach dem Lockdown stiess ich im Naturhistorischen Museum Basel auf einen Schaukasten mit der Erklärung: „Vor rund 200‘000 Jahren ist der moderne Mensch Homo sapiens entstanden. Mit seinem Auftritt tauchte auf der Erde eine neue Gefahr für die anderen Arten auf – die Ausrottung durch einen einzigen Räuber.“

Paradox des Guten

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft, wenn wir nicht mehr die Grundüberzeugung haben, dass es – trotz allem – dennoch gut ist, dass es uns gibt? Können aus Selbsthass vernünftige Lösungen für die Umweltprobleme unserer Zeit geboren werden? Der französische Philosoph Rémi Brague hat die existentielle Krise des Menschen in der Gegenwart als „Paradox des Guten“ beschrieben: Die Fortschritte der Moderne haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen an immer mehr Gütern teilhaben können, also zu Wohlstand kommen. Aber die Moderne könne „nicht auf die banale Frage antworten, wieso es gut ist, dass es Menschen gibt, die von diesen Gütern profitieren können.“

Als Philosoph, der jedes Problem bis zu seinen letzten Ursachen und Gründen durchdenkt, ist für Brague klar: Wenn wir die Welt, in der wir leben, nicht als Werk eines Schöpfers verstehen, der die Existenz des Menschen bejaht, haben wir kaum eine Antwort auf diese Frage. Zweifellos gibt es darüber hinaus auch vorletzte Gründe, die für den Menschen sprechen. Wer ausser ihm sollte sich etwa für den Artenschutz einsetzen? – Denn nicht nur der Mensch, auch die wilde Natur kann Arten ausrotten. Wer bliebe ferner übrig, die Natur zu erforschen und sich über ihre Entstehung und weitere Entwicklung Gedanken zu machen? Und wer schliesslich wäre im Stande, sich an der intakten Tier-, Pflanzen- und Bergwelt zu erfreuen, sie in Liedern und Gedichten zu besingen? Verlöre die blinde Natur, die ausser Stande ist, sich selbst zu reflektieren, ohne die Existenz des Menschen nicht gänzlich ihren Bezugspunkt, ihren Sinn?

Biblische Perspektiven

Die menschlichen Fähigkeiten zu denken, zu lieben und zu sprechen, deuten auf die Geistigkeit des Menschen hin, die ihn Gott „ähnlicher“ macht als alle anderen Geschöpfe. Was auch manche heidnischen Philosophen schon erahnten – so etwa Aristoteles, wenn er von göttlichen Funken spricht, der in jedes Menschen Seele wohnt – ist im Schöpfungsbericht der Bibel eindrücklich entfaltet: Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis, wobei die Kirchenväter das „Bild“ auf die schöpfungsmässige Geistbegabung (Vernunft und Wille) bezogen, das „Gleichnis“ aber auf die gnadenhafte Erhöhung des Menschen zur Gotteskindschaft, die durch den Sündenfall verloren ging und erst in Christus wieder hergestellt bzw. überboten wird.

Während alle anderen Geschöpfe für den Menschen gemacht sind, damit er sie benenne, nutze und bewahre, ist der Mensch um seiner selbst willen gewollt – er ist zur Gemeinschaft mit Gott berufen. Tiere haben eine Umwelt, der Mensch aber lebt im Angesicht der gesamten Schöpfung und ihres Schöpfers. Der Mensch ist befähigt, sich über das Alltägliche – die Stillung der materiellen Notdurft – zu erheben zu den geistigen Gütern. Er ist, wie die Kirchenväter sagten, „gottfähig“ (capax dei). So schreibt Paulus im Römerbrief (1,19–21): „Was man von Gott erkennen kann, ist unter den Heiden offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben.“

Hier klingt das Drama der von Adam und Eva begangene Ursünde mit ihren Folgen für die ganze Schöpfung an. Paulus beschreibt dies in der Fortsetzung so: „Denn obwohl die Heiden von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. (…) Sie haben Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer, (…).“ Vom Dunkel der Sünde ist die ganze Schöpfung betroffen, die „bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt“ (8,22). „Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (23 f.)

Ambivalenz und Hoffnung

Der Zustand der gefallenen, auf Hoffnung hin geretteten Welt ist und bleibt – bis zur endgültigen Vollendung – ambivalent. Und hierin liegt auch die Tücke der genannten vorletzten Gründe. Der Mensch steht einerseits in der Gefahr, die Natur mit dem Schöpfer zu verwechseln und die Mutter Erde anstatt den Vater im Himmel anzubeten. Die andere Versuchung besteht in der Allmachtsphantasie des Menschen, er könne sich und die Natur selbst aus dem Schlamassel der Sünde erlösen. Die gefallene Natur ist nicht einfach gut, wie jeder von uns aus der Erfahrung des moralisch Bösen und der „natürlichen“ Übel (Naturkatastrophen, Krankheiten, Schlangenbisse, usw.) weiss. So hat der britische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton schon vor 100 Jahren in seiner bekannt witzigen Art geschrieben: „Wenn du die Natur als eine Mutter ansiehst, wirst du entdecken, dass sie Stiefmutter ist.“ In diesem Sinne könnte, wie der Theologe Martin Grichting schreibt, die Corona-Krise heilsam sein für den Menschen von heute. „Sie macht ihn vorsichtiger, naiv die Natur zu vergöttern.“ Und die derzeit heftige Begegnung mit dem, was „Natur“ eben auch bedeuten könne, lasse den Menschen seine Machtlosigkeit neu erkennen. „Der Mensch ist nicht Gott, sondern nur ein Teil, wenn auch der herausragende, einer stets gefährdeten Schöpfung.“

Angesichts dieser Erfahrung ist die Fähigkeit zur Hoffnung, die auf dem Glauben an ein überzeitliches Heil baut, das stärkste Argument für den Menschen. Ein Tier kann zwar nicht verzweifeln, es kann aber auch nicht hoffen. Spätestens wo das Leid überhandnimmt, schenkt allein die übernatürliche Hoffnung eine Perspektive. In diesem Sinne tröstete schon der Prophet Jeremia (29,11) die Israeliten im babylonischen Exil: „Ich kenne die Pläne, die ich für euch habe, spricht der HERR: Pläne des Heils, nicht des Unheils, denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.“

 

Dieser Text erschien zuerst in leicht veränderter Fassung im Oktober 2020 im Ethos Magazin.