Der von Zukunft CH veranstaltete und von Lukas Wick im November 2021 gehaltene Online-Vortrag zum Thema „Der Islam und der Rechtsstaat“ begeisterte viele Zuhörer. Doch er zeigte auch: Die Medien vermitteln häufig ein Bild der islamischen Welt als homogenes Ganzes, das nicht der Realität entspricht. Ein ergänzender Blick des Referenten über die Spannungen zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der islamischen Welt, welche Fragen der Moderne unterschiedlich angehen.

Von Lukas Wick

Die Salafisten (salaf: die frommen Vorfahren) propagieren eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Islam, um die aktuellen Probleme zu lösen. Sie versuchen, den modernen Staat zu islamisieren, indem sie ihn von säkularen Elementen „reinigen“, v.a. von Freiheiten, die dem Koran zuwiderlaufen. Zugleich betonen sie die Rolle des Islam als Grundlage für das gesellschaftliche Leben. Die theoretischen Grundlagen des Salafismus wurden Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Laut einigen Vertretern der damaligen Zeit sollte die Rückkehr zu den Ursprüngen die kulturelle Authentizität bekräftigen. Die islamische Renaissance mit salafistischer Ausrichtung fand jedoch erst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts statt. Diese Islamisierung betrifft alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens (Kleidung, oftmals auffällige Einhaltung von Regeln und Bräuchen, Speisevorschriften, Schulunterricht, Umsetzung der Scharia).

Jahrelang wurden salafistische Bewegungen von vermeintlich säkularen Regimen verfolgt. Der Arabische Frühling vor etwa zehn Jahren gab ihnen die Gelegenheit, wieder aus dem Untergrund zu treten und zu wichtigen Akteuren der Politik zu werden. Dabei konnten sie sich auf ein breites Netz von Moscheen, Ausbildungs- oder Sozialhilfezentren stützen. Die Salafisten waren dank der Arbeit für Arme gut organisiert und profitieren von einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung, die sie im Zuge des Arabischen Frühlings geschickt zu aktivieren wussten. Sie vertreten eine Weltanschauung, die völlig im Widerspruch zu den zeitgenössischen Vorstellungen von Gewissens- und Religionsfreiheit oder Machttrennung, Gleichberechtigung der Geschlechter usw. steht.

Dann gibt es gemässigte Muslime, oftmals Intellektuelle, die sich der Herausforderungen bewusst sind, welche die Moderne an die islamische Lehre stellt, insbesondere im politischen Bereich. Sie versuchen, den Islam mit der modernen Welt kompatibel zu machen. Aus diesem Grund sind sie im Westen durchaus angesehen und gelten als Vertreter eines offenen und modernen Islam. Allerdings erreichen sie nicht die breite Masse der Muslime. Ihr Diskurs ist oftmals von der Realität der meisten Gläubigen abgekoppelt. Und indem sie von der Historie abstrahieren oder grundlegende Dogmen des Islam wie die Bedeutung des Korans als immer gültiges Wort Allahs und den paradigmatischen Charakter Mohammeds usw. herunterspielen, haben die „Reformer“ in den Augen der einfachen Muslime keine Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus werden sie häufig der Kollaboration mit autoritären Regimen beschuldigt, die den Salafismus mit drakonischen Massnahmen einzudämmen versuchen.

Seit einigen Jahren ist zudem eine neue Strömung zu beobachten: die der jungen, gut ausgebildeten Aktivisten. Sie sind sowohl dem Islam als auch der politischen Macht gegenüber sehr kritisch eingestellt. Viele dieser Menschenrechts- und Minderheitenaktivisten testen regelmässig die Grenzen des Möglichen aus, indem sie die Eigenmächtigkeit des Staates anprangern und problematische Aspekte des Islam kritisieren. Sie werden von den politischen Machthabern, die den Unmut der Bevölkerung besänftigen wollen, oft schnell mundtot gemacht. Einige werden regelmässig verhaftet oder sitzen bereits länger im Gefängnis.

Die islamische Welt ist von den grossen Fragen unserer Zeit nicht ausgenommen und die Muslime können sich den heutigen Herausforderungen nicht entziehen. Der moderne, säkulare Staat mit seinen Institutionen, seiner Gewaltenteilung, seinen Rechten und Freiheiten stellt das Ideal, das Mohammed vor 1400 Jahren für die islamische Welt verkündete, vor ein echtes Problem.

Mehr Infos zum Thema gibt es in unserer Broschüre: Ist der Islam reformierbar? , bestellbar bei Zukunft CH.