Dank tiefer Ansteckungszahlen gehen die Lockerung und Aufhebung der Ausnahmemassnahmen in der Schweiz zügig vonstatten. Die Freude darüber ist gross, doch Umsetzbarkeit, Prioritäten und Reihenfolge der Öffnung sorgen für Gesprächsstoff.

Während Sportarten mit nahem Körperkontakt weiterhin verboten bleiben, sind Erotik-Dienstleistungen ab dem 8.Juni 2020 wieder gestattet. Während über Gottesdienste mit viel Abstand und ohne Gesang debattiert wird, dürfen Discotheken und Nachtclubs wieder öffnen. Nicht wenige Schweizer fragen sich, welche Haltungen und Werte hinter solchen Entscheidungen stehen. Sind Sportler schützenswerter als Discobesucher oder Prostituierte und sind Bordelle oder Discos tatsächlich derart gesellschaftsrelevant, dass sie trotz hoher Ansteckungsgefahr und kaum einhaltbarer Distanz dringend wieder geöffnet werden müssen? Wer entscheidet, welche Risiken der Bevölkerung zugemutet werden dürfen und gegen welche energisch vorgegangen werden muss? Während der Bevölkerung während Corona drastische Einschränkungen auferlegt wurden, wird bei anderen Gefährdungen auch von Seiten des BAG seit Jahrzehnten auf Freiwilligkeit gesetzt.

Die zurückliegenden Wochen werfen Fragen auf, die nicht vorschnell zur Seite gelegt werden sollten; es ist ganz und gar nicht an der Zeit, nun einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen. Vielmehr sollten Verantwortungsträger, Parteien und Bevölkerung sich fragen, welche fragilen Personengruppen deutlich mehr Schutz brauchen, und Gesetze erlassen, die diesen Schutz auch tatsächlich gewährleisten. Kinder, Jugendliche, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen – im Mutterbauch und ausserhalb –, Prostituierte und andere teilweise massiv Ausgebeutete warten darauf, dass wir als humane und aufgeklärte Gesellschaft tun, was diesen Namen auch tatsächlich verdient. Die Krise könnte für diese gefährdeten Gruppen in unserer Gesellschaft zur Chance werden. Wenn wir denn wollten. Wo ein Wille ist – sagt der Volksmund und zeigt es die Realität –, ist auch ein Weg.