Der Künstlerwettbewerb für eine neue, angeblich „zeitgemässe“ Nationalhymne geht am 5. Juni 2015 in die finale Phase: Auf dem Rütli werden die drei Siegerbeiträge vorgestellt, die ab 8. Juni die zweite Runde des Online-Votings bestreiten. Doch seit der Wettbewerb angelaufen ist, erntet die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGS) viel Kritik für ihr Ansinnen, den Schweizerpsalm abschaffen zu wollen. Die grosse Mehrheit der Schweizer steht zur aktuellen Hymne. Doch damit ist es nicht getan. Vielmehr sollten wir die aktuelle Debatte dazu nützen, uns jenseits jedes oberflächlichen Sentimentalismus den tieferen Sinn des Schweizerpsalms neu anzueignen. Die Frage lautet also nicht nur, ob wir unsere Hymne retten, sondern ebenso, ob der Schweizerpsalm helfen kann, unsere Schweiz zu retten.

Von Dominik Lusser

Im Jahre 1841 übertrug der Zisterziensermönch Alberik Zwyssig einen von ihm komponierten lateinischen Messgesang auf einen patriotischen Text des Lieddichters Leonard Widmer. Die Gegensätze zwischen den beiden freundschaftlich verbundnen Urhebern des Schweizerpsalms hätten nicht grösser sein können: „Hier der liberale Feuerkopf, dort der konservative Zisterzienser. Hier der Reformierte und dort der Katholische. Hier der Zürcher und dort der Urner. Hier der Geschäftsmann und dort der Geistliche. Hier der Heftige und dort der Sanftmütige. Hier der umtriebige Städter und dort der zurückgezogene Mönch. Hier der kraftvoll Gesunde und dort der ständig Kränkliche. Hier das Vaterlandslied und dort der Messgesang. Hier die deutsche und dort die lateinische Sprache.“ (Christoph Blocher 2011 in einer Festansprache)

Vielfalt in der Einheit

Was Zwyssig und Widmer trotz aller Gegensätze vereinte, war die tiefe Überzeugung, dass gerade der Mensch, der betend vor Gott steht, frei und er selbst ist. Die erstaunliche Entstehungsgeschichte unserer Hymne weist also den Weg, wie Verschiedenheit in wahrer Einheit gelingen kann. Ob der heute vorherrschende relativistische Pluralismus, der keine bleibenden Werte mehr gelten lässt, solche Einheit auch zuwege bringt, ist zweifelhaft. Es gäbe also genug zu entdecken in diesem Lied, dessen Sprache zugegebenermassen nicht mehr jedem auf Anhieb zugänglich ist. Doch schliesslich werden Homer und Goethe auch nicht einfach aus den Schulzimmern verbannt, weil ihre Sprache in die Jahre gekommen ist. Wir leben in einer zunehmend oberflächlichen Kultur, die alles – auch den Menschen – auf seine äussere Gestalt reduziert und das scheinbar „Veraltete“ oft voreilig aussortiert. Darum wird der Schweizerpsalm auf Dauer nicht als Nationalhymne zu verteidigen sein, wenn wir Schweizer die jetzt entbrannte Diskussion nicht dazu nützen, uns den Inhalt unserer Hymne wieder tief im Herzen zueigen zu machen.

Nur „die fromme Seele ahnt“

Die Diskussion über eine neue Hymne spiegelt ein gesellschaftliches Identitätsproblem wider: Es gibt eine wachsende Unwissenheit um den Ursprung von Werten wie Frieden, Solidarität, Demokratie und Freiheit, welchen die Schweiz ihre Einheit und Eintracht verdankt. Ist der Weg zur Etablierung dieser Werte auch lang und kurvenreich verlaufen, ist sie doch wesentlich auch Frucht des christlichen Menschenbildes und des Glaubens an Gott. Ob sich diese Werte langfristig auch ohne die bewusste Verantwortung gegenüber dem Schöpfer erhalten lassen, ist mehr als fraglich.

Es ist zu befürchten, dass diese Grundlagen jeder humanen Gesellschaft ohne den Glauben an den „menschenfreundlichen, liebenden“ Gott nach und nach verschwinden werden. In der Sprache des Schweizerpsalms heisst das: Nur so lange die „fromme Seele“ im majestätisch glänzenden Alpenfirn genauso wie in jedem Mitbürger Gottes Gegenwart bzw. Ebenbild „erahnt“, wird die Schweiz ein lebenswertes Land bleiben. Ohne „Gott im hehren Vaterland“ aber hat die Schweiz, wie wir sie kennen und lieben, keine Zukunft.