Wieder einmal ist Ramadan, in der Schweiz wie drunten in der Türkei. Der islamische Fastenmonat hat sich in den letzten Jahren neben dem Kopftuch zur Hauptmanifestation selbstbewusster Mosleminnen und Moslems entwickelt. Als vor drei Generationen die ersten Türken und islamischen Jugoslawen, d.h. Bosniaken und Albaner, zu uns kamen, brachten sie aus der Heimat kaum mehr lebendiges Fastenbrauchtum mit. In der durch Kemal Atatürk verwestlichten Türkei wurde damals vom Ramadan fast nur mehr das abendliche Festmahl nach Sonnenuntergang praktiziert, ein schmauselustiges Fastenbrechen ohne vorheriges Fasten.
Heute hingegen beginnt ein Ramadantag bereits vor vier Uhr früh mit einem hastigen, doch dabei möglichst ausgiebigen Frühstück. Das muss den ganzen Tag anhalten. Denn ab Sonnenaufgang ist kein Bissen, kein Schluck mehr gestattet. Manche wagen daher nicht einmal mehr zu schwimmen, weil sie dabei etwas Wasser verschlucken könnten. Fällt der Ramadan wie dieses Jahr in den Hochsommer, dann werden das Trink- und Badeverbot zu einer richtigen Tortur. Mohammed dürfte diese Art des Fastens christlichen Einsiedlern abgeschaut haben, denen er in der Arabischen Wüste begegnet war. Spätere Moslem-Mystiker sahen darin eine spezifisch islamische Spiritualität: Alle Gottesgaben an Speis und Trank, aber auch die sexuellen Freuden werden nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern dankbar angenommen; doch ebenso als Zeichen menschlicher Dankbarkeit an ihren Spender verzichtet man im Ramadan den Tag über darauf, um sie in der folgenden Nacht noch lustvoller zu geniessen.

Das Iftar ist hauptsächlich ein Familienfest, verwandt dem jüdischen Sabbatvorabend: Vor Sonnenuntergang sitzen Eltern und Kinder mit eingeladenen Verwandten und Freunden um den gedeckten Tisch. Still erwarten sie den Ruf des Muezzins von der nächsten Moschee. Aufs erste „Allahu ekber“ folgen kurze Gebete der Versammelten, dann wird kräftig zugelangt. Auch arme Leute bieten am Ramadanabend vier bis sechs Gerichte auf, zum Abschluss gibt es getrocknete Datteln und Aprikosen. Nach dem Essen sitzt man noch länger beisammen, das Fernsehen bietet besondere Programme an. Manchmal werden auch andersgläubige Nachbarn eingeladen, der Pfarrer oder Rabbiner von nebenan. So hat der Ramadan nicht nur einen intermuslimischen, sondern ebenso einen gewissen interreligiösen Solidarisierungscharakter.

In der heutigen Türkei wird dabei aber auch schmerzlich ein Graben deutlich, der das weltliche Lager der Atatürk-Erben von einer wieder wachsenden Gemeinschaft der Islam-Bewussten trennt. Die „Säkulären“ essen auf ihren Balkonen herausfordernd zu Mittag. Emanzipierte Frauen in knappen Shorts und offenherzigen Leibchen knattern auf Motorrädern durch Istanbuls morgenstille Gassen. So schrecken sie die Frommen aus ihrem Verdauungsschlaf nach dem Ramadan-Frühstück. Für uns Westeuropäer wäre von Haus aus diese kopftuch- und ramadanlose türkische Gesellschaft die sympathischere, vor allem was ihre selbstbewussten weiblichen Vertreterinnen betrifft. Doch ist in diesen Kreisen neben einem aggressiven religionsfeindlichen Säkularismus auch der radikalste türkische Nationalismus zuhause, der Kurden, Armeniern und anderen Christen keinen Raum gibt. Eine richtige Türkin, ein richtiger Türke muss für sie nicht nur türkischer Sprache und Herkunft, sondern auch islamischen Glaubens sein, mag man sich um diesen auch sonst nicht im Geringsten scheren …

Von Heinz Gstrein (derzeit aus Istanbul)