Martin Grichting, Generalvikar des Bistums Chur, gibt in seiner neuen Schrift „Im eigenen Namen, in eigener Verantwortung“ (Fontis-Verlag 2018) eine „katholische Antwort auf den Pluralismus“, die auch für andere Konfessionen bedenkenswert ist: Müssen Christen in einer Demokratie auf den Wahrheitsanspruch ihrer Religion verzichten? Oder sollen sie ihre Religion zur Privatsache machen, ohne Einfluss auf Gesellschaft und Staat?

Missbrauch religiöser Autorität?

Was wie ein Dilemma aussieht, muss laut Grichting keines sein: Die katholische Kirche schlägt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) ein Modell vor, das auf der Unterscheidung zwischen Kirchenleitung – bei den Katholiken die Bischöfe und Priester – und Gläubigen („Laien“) aufbaut. Aufgabe der Hierarchie sei es, für die unverrückbaren Glaubenswahrheiten sowie die sittlichen Gebote einzutreten und diese mit religiöser Autorität zu verkünden. Diese Grundsätze würden aber in einer pluralistischen Demokratie nicht zum Gesetz (was einen Gottesstaat zur Folge hätte). Es sei vielmehr die Aufgabe der Laien, mit demokratischen Mitteln in der (Tages-)Politik dem Gehör zu verschaffen, was ihrem Glauben entspräche. So kann laut Grichting auch ein Missbrauch der religiösen Autorität vermieden werden. Einen solchen sieht der Kirchenrechtler etwa gegeben, wenn die Amtskirche „parteilich“ eine konkrete politische Position als einzig mögliche christliche Option darstellt, obwohl für Christen auch andere Standpunkte möglich wären.

Grichting zeigt auch auf, dass die Trennung von Religion und Politik kein Fremdkörper im christlichen bzw. katholischen Selbstverständnis ist, dem man sich heute widerwillig beugt, um den Anschluss an die Zeit nicht zu verpassen.

Theologisch begründete Säkularität

Vielmehr habe das Christentum ausgehend von den Worten Jesu in der Bibel: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Mt 22,21) eine eigenständige staatliche Macht legitimiert. Die christlich begründete Trennung von Religion und Politik, die von Historikern als wichtige Voraussetzung für die europäische Rechtsentwicklung und die Entfaltung der Menschenrechte angesehen wird, ist laut Grichting auch durch die christliche Unterscheidung von Schöpfungs- und Offenbarungsordnung begründet: „Zur Schöpfungsordnung gehören die Würde des Menschseins, die Gesetze der Natur, der Staat und das Recht, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Kultur.“ Diese Welt werde am Anfang der Bibel als „sehr gut“ (1. Mose 1,31) bejaht. Die Welt und das menschliche Leben besitzen laut Grichting also bereits vor der religiösen Offenbarung ihre Würde und Daseinsberechtigung. „So paradox es klingt: Säkularität ist ein religiöses Konzept, das sich dem jüdisch-christlichen Verständnis der Welt verdankt.“ Im Gegensatz dazu lehnt der Islam die Trennung von Religion und Politik ab.

Grichting ruft damit in Erinnerung, worauf schon Papst Benedikt XVI. bei seiner berühmten Rede vom 22. September 2011 im deutschen Bundestag hingewiesen hatte: „Im Gegensatz zu anderen grossen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie (…) eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben.“ Es habe stattdessen stets auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen.