Als „gute Hilfe im Bestehen des Lebens und all seiner Bedrängnisse“ (Hermann Hesse) preist die Sterbehilfeorganisation Exit-Deutsche Schweiz seit nunmehr 30 Jahren die Dienstleistung des assistierten Selbstmords an. Zusammen mit dem eigenständigen Verein Exit A.D.M.D Suisse Romande zählt man 80’000 Mitglieder. Die Anzahl der Freitodbegleitungen von Exit und Dignitas beläuft sich auf 576 für das Jahr 2011, was einer Zunahme von 131 Fällen gegenüber 2010 entspricht. Diese Zahlen ebenso wie aktuelle Meinungsumfragen machen deutlich, dass organisierte Suizidhilfe längst kein Tabu mehr ist. Doch wie ist es dazu gekommen und wie ist diese Entwicklung zu beurteilen?

Von Dominik Lusser

Dem zunehmenden öffentlichen und privaten Interesse an Suizidassistenz entspricht ganz offensichtlich eine neue Sicht auf Leben und Sterben. Immer mehr Menschen halten nicht mehr an der unantastbaren Würde des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod fest. Sie fühlen sich frei, unter veränderten Lebensbedingungen erneut über ein Weiterleben entscheiden zu können. Auch die Organisation Exit scheint die Gleichsetzung von Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht zu vertreten. Wie sie in ihrer Broschüre „Selbstbestimmung im Leben und im Sterben“ schreibt, sieht sie diese Würde immer dann bedroht, „wenn ein Mensch in der Phase des Verfalls seiner körperlichen und/oder geistigen Kräfte zum manipulierbaren Objekt ärztlicher Fremdbestimmung wird.“ Fremdbestimmung wird so zum Inbegriff des Menschenunwürdigen und man vergisst, dass ein jedes Kleinkind sein Überleben nur der Fremdbestimmung durch seine Eltern verdankt.

Gesellschaftlicher Druck auf Kranke steigt

Welche Menschen vor einem Verlust an Autonomie und Würde zu schützen sind, davon hat Exit ganz konkrete Vorstellungen. Denn Beihilfe zum Suizid wird nur Menschen mit hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbarer Behinderung angeboten. Man ist versucht, diese fast unerwartete Einschränkung der Selbstbestimmung positiv zu werten, übersieht dabei aber, dass hier angeblich „vernünftige“ Kriterien zur Beurteilung von Selbsttötungen eingeführt und angewendet werden.

Sind aber solche wie auch immer geartete Bewertungsmassstäbe „rationaler“ Selbsttötung erst einmal im Bewusstsein der Menschen verankert und die Sensibilität für die unantastbare Würde des Lebens verlorengegangen, wird die Plausibilität bzw. der Druck immer grösser, sie auch ohne ausdrückliche Willensäusserung des Patienten anzuwenden. Dies zeigt die Entwicklung in Holland, wo seit 2002 aktive Sterbehilfe mit Einwilligung des Patienten gesetzlich erlaubt ist. Eine von der holländischen Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung legt dar, dass schon 2001 in 20 Prozent der 4‘632 Fälle aktiver Euthanasie, also in 982 Fällen, keine Zustimmung des Patienten vorlag. Eine von der Universität Zürich durchgeführte EU-Studie zeigt, dass zur gleichen Zeit auch in der Schweiz bereits 0.42 Prozent der jährlichen Sterbefälle auf aktive Euthanasie ohne Einwilligung des Kranken zurückzuführen waren. Gemessen an den Todesfällen von 2010 (62‘649) sind dies 263 Fälle.

Das gesellschaftliche Risiko, welches das Angebot an organsierter Suizidhilfe gerade angesichts von Kostensteigerungen im Gesundheitswesen und Überalterung mit sich bringt, hat auch die Nationale Ethikkommission der Schweiz 2005 in ihrer Stellungnahme „Beihilfe zum Suizid“ deutlich gesehen: „Schuldgefühle können daraus entstehen, anderen (…) finanziell und im Sinn der pflegerischen Abhängigkeit zur Last zu fallen.“ Aus dem Recht auf Sterbehilfe droht so eine Pflicht zu werden. Wo nämlich das Weiterleben nur noch eine von zwei legalen Wahlmöglichkeiten darstellt, wird der Kranke die Konsequenzen seines Weiterlebens, etwa die hohe Pflegekosten oder die den Verwandten abverlangten Mühen, selber verantworten müssen. So und nicht anders sehen die langfristigen Folgen einer moralischen Aufwertung des Selbstmords aus.

Eine echt menschliche Sterbebegleitung

Das damit einhergehende Auseinanderbrechen der menschlichen Solidargemeinschaft ist am besten geeignet, Selbstmordgedanken in den Alten und Kranken aufkommen zu lassen. Denn die meisten Suizidwünsche werden – wie der deutsche Philosoph Robert Spaemann bereits 2005 in der Stuttgarter Zeitung erklärt hat – „nicht grosser Schmerzen wegen geäussert, sondern aus Situationen der Verlassenheit heraus. Fast immer schwinden diese Wünsche, falls sie nicht krankhaft sind, wenn ein Mitmensch, der sogar der Arzt sein kann, ein echtes und tätiges Interesse am Dasein eines Kranken bekundet. In diesem Augenblick grösster Schwäche und reduzierter Autonomie, wo der Leidende nur eines braucht – nämlich Zuwendung, Solidarität und Linderung der Schmerzen – seine effektive Selbstbestimmung in den Mittelpunkt zu stellen, ist eine zynische Ausrede, um sich diesen Verpflichtungen zu entziehen.“

Spaemann zeigt hier zugleich auf, in welche Richtung eine echt humane Sterbehilfe gehen sollte. Sie müsste als Hilfe beim Sterben und nicht als Hilfe zum Sterben verstanden werden. „Die Kräfte der Fantasie und Solidarität“ könnten aber nur dann „mobilisiert werden, wenn der billige Ausweg unerbittlich verriegelt bleibt.“ Echte Hilfe im Sterben orientiert sich – wie Kardinal Kurt Koch 2007, damals als Bischof von Basel, in einem Vortrag in Rheinfelden ausgeführt hat – an den Bedürfnissen des sterbenden Menschen, „nämlich im Sterben nicht allein gelassen zu werden, nicht unter starken Schmerzen leiden zu müssen, die letzten Dinge regeln und die Frage nach einer über den Tod hinausgehenden Hoffnung besprechen zu können“. Hilfe im Sterben umfasst demnach als ganzheitlich-humane Hilfe die drei Dimensionen „der menschlichen Zuwendung, der seelsorgerlichen Begleitung und der medizinischen Betreuung“. Diese tiefsten Bedürfnisse unserer Kranken und Sterbenden ernst zu nehmen ist das Kennzeichen einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft.

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Zur Erklärung: Begriffe und Gesetzeslage in der Schweiz

Beihilfe zum Suizid: Dem Patienten wird eine tödliche Substanz vermittelt, die dieser selbst einnimmt. Ist gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches straffrei, sofern nicht „selbstsüchtige Begründungen“ vorliegen.

Aktive Euthanasie: Gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines anderen Menschen. Ist unter Strafe verboten und wird in der Schweiz auch direkte aktive Sterbehilfe genannt.

Indirekte aktive Sterbehilfe: Inkaufnahme das Leben verkürzender Nebenwirkungen bei der Verabreichung palliativmedizinischer Medikamente bei Sterbenden. Ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als erlaubt.

Passive Sterbehilfe: Beendigung oder Unterlassung jener lebenserhaltenden Massnahmen, die in einem Sterbeprozess den Tod hinausschieben, aber nicht mehr aufhalten können. Ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als erlaubt.

Von der Rechtslage zu unterscheiden ist die ethische Bewertung. Während Beihilfe zum Suizid und aktive Euthanasie das generelle Tötungsverbot aufheben, ist die moralische Bewertung indirekter aktiver Sterbehilfe und passiver Sterbehilfe sehr viel komplexer, da die Grenze zur aktiven Sterbehilfe teilweise schwer zu erkennen ist.