Mit einer Totalrevision des Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) will der Bundesrat dem technischen Fortschritt bei der Entschlüsselung des Erbguts Rechnung tragen. Dabei verfolgt er wie bis anhin das Ziel, „die Menschenwürde“ zu schützen, die laut Bundesgericht auch schon dem Embryo zukommt. Der vorgeschlagene Text, der sich noch bis Ende Mai 2015 in der Vernehmlassung befindet, schützt ungeborene Kinder aber nur vor der Selektion augrund des Geschlechts, nicht aber vor Selektion aufgrund von Krankheit. Dieser Widerspruch gibt Anlass zur Frage, was die politische Rede von der Menschenwürde eigentlich noch Wert ist.
Neue Tests

Der technische Fortschritt im Bereich der genetischen Untersuchungen führte in den letzten Jahren u. a. zu neuen Bluttests, mit denen Chromosomenstörungen wie das Down-Syndrom, aber auch Eigenschaften wie das Geschlecht des Embryos festgestellt werden können. Und dies, im Unterschied zu den früheren invasiven Methoden, ohne Risiko für Mutter und Kind. Die neuen pränatalen Tests werden seit 2012 unter anderem von der Konstanzer Firma Lifecodexx auf dem Schweizer Markt angeboten. Seither haben bereits mehrere Tausend Schweizer Frauen einen solchen Test in Anspruch genommen. Es wird “dank” der neuen Verfahren generell mehr getestet und die Kostenübernahme der neuen Tests durch die obligatorische Krankenversicherung ist beantragt. Das Bundesamt für Gesundheit bemerkt darum zu Recht, dass der technische Fortschritt „gesellschaftspolitische und ethische Fragen“ aufwirft, welche den Schutz des ungeborenen Kindes betreffen.

Doch welche Antworten gibt der Entwurf zum neuen Gesetz? Der Gesetzgeber sieht in Anbetracht des steigenden Missbrauchspotential Regelungen vor, um die Abtreibung bzw. Selektion von ungeborenen Kindern aufgrund des Geschlechts zu verhindern (Art. 15, 2). Dazu soll das Geschlecht prinzipiell erst nach Ablauf der zwölften Schwangerschaftswoche mitgeteilt werden dürfen, also nach der Frist, innerhalb derer straffrei abgetrieben werden kann. Ein entsprechender Schutz für kranke Kinder fehlt jedoch gänzlich, obwohl es dafür weder rechtliche noch sachliche Gründe gibt. Sowohl in der Bundesverfassung (Art. 7) wie auch im Zweckartikel des GUMG heisst es klar, dass die „Menschenwürde“ zu schützen ist. Und das Bundesgericht hielt 1993 in Einklang mit allem, was wir heute über den Zeitpunkt der Entstehung des menschlichen Lebens wissen, fest, dass schon dem Embryo die volle Menschenwürde zuerkannt werden muss (BGE 119 Ia 503).

Menschenwürde…

Dabei wäre ein Schutz für kranke Kinder ebenso dringend notwendig, werden diese doch schon heute in 75 bis 90 Prozent der Fälle abgetrieben. Da stellt sich in aller Dringlichkeit die Frage, was die Berufung auf die Menschenwürde in der Politik noch Wert ist. Menschenwürde kann dem Menschen nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Art Mensch zukommen. Wer die Menschenwürde von sekundären Eigenschaften wie dem Gesundheitszustand oder dem Geschlecht abhängig macht, hebt sie als Prinzip auf. Der Gesetzgeber erlaubt sich also eine folgenreiche Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem menschlichem Leben, wenn er die Selektion dann erlaubt, wenn die Gesundheit des Embryos oder des Foetus „direkt und wesentlich beeinträchtigt“ ist (Art. 15,1 a). Der im Vergleich zum aktuell gültigen GUMG neue Zusatz „wesentlich“, mit dem zukünftig „die Schwere eines Leidens als Kriterium berücksichtigt werden muss“, ändert an der grundsätzlichen Ungerechtigkeit nichts. Denn „wesentlich“ am Menschen ist einzig sein Menschsein. Krankheit oder Leiden – über die Köpfe der Betroffenen hinweg – gegen das Leben selbst aufzuwiegen, ist hingegen eine ungeheure Kompetenzüberschreitung des Gesetzgebers. Denn mit dieser Ungleichbehandlung menschlicher Individuen untergräbt er ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaats, das in der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz besteht (Art. 8, 1 BV). Mit den vorgesehenen gesetzlichen Schranken gegen Selektion aufgrund des Geschlechts setzt der Gesetzgeber zwar das verfassungsmässig verankerte Diskriminierungsverbot (Art. 8, 2 BV) ansatzweise auch für ungeborene Kinder durch. Jedoch nur unvollständig, da die Bundesverfassung nicht nur ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts, sondern auch aufgrund von „geistiger oder psychischer Behinderung“ kennt.

… oder Frauenwürde?

Dass die Abtreibung aufgrund des Geschlechts 2014 so hohe Wellen warf und nun auf Anregung einer Motion von SP-Ständerätin Pascal Bruderer Wyss gesetzlich explizit verunmöglicht werden soll, ist sicher ein Sieg für das Leben. Resultat einer konsequenten Überprüfung des Missbrauchspotentials unserer Gesetzgebung ist es aber nicht. Viel eher schon ein Erfolg der Feministinnen, die sich wohl erstmals in ihrer Geschichte für das ungeborene Leben stark machen; aber eben nicht aus Prinzip, sondern wohl nur aus Sorge um den minderen Wert, den das weibliche Geschlecht in vielen Immigrantenfamilien aus Nah- und Fernost hat. Unter den Politikerinnen und Politiker, die Bruderers Motion unterstützten, waren auch solche, die noch Anfang 2014 die Initiative „Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache“ als Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau bekämpft hatten. War es damals angeblich nur um den Bauch der Frau gegangen, hatte ein paar Monate später nun plötzlich auch das ungeborene Kind selbst eine schützenswerte Eigenschaft. Aber eben nicht sein Menschsein, sondern nur sein (weibliches) Geschlecht. Bruderer selbst betonte in der Debatte im Ständerat, ihre Motion richte sich nicht gegen pränatale Tests und „erst recht nicht gegen die Fristenregelung“, die sie für „eine äusserst wichtige Errungenschaft“ hält.

Wenn man diesen heillos widersprüchlichen Umgang unserer Politiker mit Lebensrecht und Menschenwürde betrachtet, kann einem Angst und Bang werden. Vor 70 Jahren ging Nazi-Deutschland unter. Die Eugenik und das Aussortieren von Menschen nach bestimmten, politisch veränderbaren Kriterien aber lebt fort, auch in der Vorlage zum neuen GUMG, mit der nach den Worten des Bundesrats der Gefahr „unerwünschter Formen der Eugenik“ entgegengewirkt werden soll. Den Wünschen ständig wechselnder parlamentarischer Mehrheiten auf Gedeih und Verderben ausgeliefert zu sein, ist aber ein Lebensgefühl, das es in einem Rechtsstaat nicht geben dürfte.

Dominik Lusser