Wenn in einem islamischen Land Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden oder zum Christentum übergetretene Muslime mit der Todesstrafe bedroht werden, klagt die Presse im Westen an, dass in der islamischen Welt gegen die Menschenrechte verstossen werde. Gleichzeitig haben fast alle islamischen Länder Menschenrechtserklärungen unterzeichnet, wie zum Beispiel die „Allgemeine Menschenrechtserklärung“ der Vereinten Nationen im Jahr 1948.
Einige islamische Organisationen haben in den vergangenen Jahrzehnten sogar selbst Menschenrechtserklärungen formuliert. Sie unterscheiden sich allerdings insofern grundsätzlich von Menschenrechtserklärungen westlicher Länder, als dass sie dem Koran und dem islamischen Gesetz (arab. shari’a) vor der Gewährung aller Menschenrechte stets den obersten Rang einräumen. Menschenrechte können daher in islamischen Ländern nur im Rahmen der im Koran und dem islamischen Gesetz festgelegten Gebote gewährt und eingefordert werden. Artikel 24 der Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 formuliert etwa: „Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Sharî’a“ (also dem islamischen Gesetz), und Artikel 25 ergänzt: „Die islamische Sharî’a ist die einzige zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“

Was bedeutet diese Höherordnung von Koran und islamischem Gesetz (shari’a)? Sie bedeutet, dass es in den islamischen Ländern tatsächlich immens schwierig oder unmöglich ist, Menschenrechte einzuklagen, die im Gegensatz zu den Grundwerten der Sharia stehen. Innerhalb des vom Koran und vom islamischen Gesetz gesteckten Rahmens können sie jedoch gewährt werden.

Menschenrechte für Muslime und Nichtmuslime

Im Islam existierte von seiner Entstehungszeit an keine Trennung zwischen Religion und Staat oder auch von Politik und Religion, während etwa im Alten Testament bereits eine gewisse Trennung zwischen Kirche und Staat, zwischen dem Amt des Königs und des Hohepriesters bestand. Die Einheit von Politik und Religion bestand im Islam schon bei Muhammad, der selbst gleichzeitig religiöser wie politischer Führer der ersten muslimischen Gemeinde war. Auch seine unmittelbaren Nachfolger (Kalifen) vereinigten beide Ämter gemeinsam in ihrer Person.
Der Islam ist in den islamischen Staaten ‚Staatsreligion’, von der angenommen wird, dass jeder Staatsbürger ihr anhängt. Im islamischen Staat ist „die Religion das staatsbildende Prinzip. Der Staat ist Träger einer religiösen Idee und damit selbst eine religiöse Institution … Ihm obliegt die Sorge für die Gottesverehrung, die religiöse Unterweisung und die Glaubensverbreitung“. Grundsätzlich muss daher unterschieden werden zwischen Menschenrechten für Muslime, die sich durch ihren Glauben staatsloyal verhalten und unter dem Dach ihrer Religion den vollen Schutz ihres Staates geniessen können, und zwischen Menschenrechten für Nichtmuslime, die durch ihren ‚Unglauben’ dem islamischen Staat gegenüber nicht loyal sind und daher diesen Schutz nicht automatisch geniessen können. Muslime besitzen in einem islamischen Land im Vergleich mit Nichtmuslimen stets umfangreichere Bürgerrechte. So darf zum Beispiel in der Regel ein Muslim nicht von einem Nichtmuslim beerbt werden, sondern nur wieder von einem Muslim.

Religionswechsel = Staatsverrat

Muslim zu sein bedeutet also gleichzeitig, ein mit allen Rechten versehener Staatsbürger zu sein, während vom Islam abzufallen bedeutet, Staats- oder Hochverrat zu begehen, denn der Islam ist „Bestandteil der Grundordnung des Staates“. Wenn ein Muslim seinem Glauben abschwört, greift er diese Grundordnung an und gefährdet die Sicherheit und die „Stabilität der Gesellschaft, der er angehört“. Martin Forstner fasst zusammen: „Nur wer an Gott und an den geoffenbarten Koran glaubt und die Scharia befolgt, ist fähig, Bürgerkompetenz zu entwickeln, während der Gottlose als Feind der Gesellschaft gilt. Die immer wieder verlangte religiöse Bekenntnispflicht – durch die Erfüllung der täglichen fünf Gebete, des Fastens im Monat Ramadan … – ist Mittel der Beförderung der staatsbürgerlichen Moral, weshalb denn im islamischen Staat die volle Bürgerrechtsfähigkeit an das Bekenntnis zum wahren Glauben gekoppelt ist“. *

Aufgrund dieser ‚Wächterfunktion’ des Staates über die Religion seiner Bürger kann daher, sofern das islamische Gesetz strikt ausgelegt wird, trotz der Formulierung von Menschenrechtserklärungen bei Abfall eines Muslims vom Islam niemals den Menschenrechten vor dem islamischen Gesetz der Vorrang eingeräumt werden. Wo ein Muslim – aus muslimischer Sicht – Hochverrat an seinem Staat begeht, muss das religiöse Gesetz vor allen Menschenrechtserklärungen befolgt werden, und das verlangt die Bestrafung des Abtrünnigen. Umgekehrt kann der Nichtmuslim in einem islamischen Staat nur die Menschenrechte geniessen, die ihm der Koran und das islamische Gesetz einräumen.

Glaubensfreiheit für Nichtmuslime

Obwohl etliche islamische Länder in ihrer Verfassung das Recht auf freie Religionsausübung und Glaubensfreiheit festgeschrieben haben, haben Nichtmuslime in der islamischen Welt praktisch immer mit erheblichen Schwierigkeiten bei der freien Ausübung ihrer Religion zu kämpfen. Wer sogar Muslim war und zum Christentum übergetreten ist, riskiert sehr viel. Trotzdem sind die islamischen Länder der Auffassung, dass sie Toleranz üben und Religionsfreiheit gewähren.

Trotz der gesetzlich verankerten Glaubensfreiheit nennt in den meisten islamischen Staaten gleichzeitig die Verfassung den Islam als Staatsreligion. Einigen anderen Religionen wie dem Juden- und Christentum wird zwar eine gewisse Existenzberechtigung eingeräumt. Das bedeutet jedoch nur, dass Juden und Christen nicht zum Islam übertreten müssen, wenn sie im islamischen Gebiet wohnen, aber sie sind deshalb Muslimen gegenüber keineswegs gleichberechtigt. Sie bleiben Bürger ‚zweiter Klasse’ mit verminderten Rechten und unterstehen dem islamischen Staat, der ihnen die Grenzen ihrer Religionsausübung klar vorschreibt. In den meisten islamischen Ländern muss der jüdische bzw. christliche Glaube in aller Stille gelebt werden, denn „es wird dem muslimischen Bürger nicht zugemutet, einer Glaubensabwerbung ausgesetzt zu werden und sich ihrer erwehren zu müssen“. Der nichtmuslimische Glaube wird im muslimischen Gebiet also immer nur geduldet und staatlich beaufsichtigt, ob er sich noch an den vorgegebenen Rahmen hält. Unter diesen Bedingungen kann er existieren, andernfalls nicht.

Verboten ist Nichtmuslimen vor allem die Beleidigung und Herabsetzung des Islam, des Korans und des Propheten Muhammad, was nach muslimischer Auffassung durch das christliche Zeugnis automatisch geschieht. Das marokkanische Strafgesetzbuch fordert zum Beispiel eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren und zusätzlich eine Geldstrafe von 200 bis 500 Dirham für denjenigen, der einen Muslim vom Islam abwirbt. Der Abfall vom Islam stellt nach dem islamischen Gesetz für einen Muslim auch heute ein todeswürdiges Verbrechen dar, während der Muslim gleichzeitig das Recht auf Mission unter Nichtmuslimen besitzt.

Zusammenfassend gilt: Islamische Menschenrechtserklärungen gleich welcher Art behalten stets bei, dass die islamische Religion die oberste Autorität darstellt. Sie können daher nur insofern Menschenrechte garantieren, wie der Islam geachtet und seine Prinzipien nicht verletzt werden. Das bedeutet gleichzeitig die Beschränkung der Rechte aller Nichtmuslime. Daher gilt: Rechte im vollen Umfang geniesst im islamischen Gebiet nur der Muslim, denn er ist staatsloyaler Bürger. Nichtmuslime geniessen verminderte Rechte, haben aber Existenzberechtigung. Vollkommen verwirkt hat seine Rechte der vom Islam abgefallene Muslim, denn er ist ein Staats- und Landesverräter. Ihm droht bei einer ordentlichen Gerichtsverhandlung oder durch Selbstjustiz seiner muslimischen Nachbarn die Todesstrafe. Dieses Recht, die Todesstrafe für Abtrünnige vor allen Menschenrechten an die erste Stelle zu setzen, unterstreicht auch der „Entwurf einer islamischen Erklärung der Menschenrechte“ der Islamischen Konferenz in Dschidda, Saudi-Arabien, von 1979: Einen Abtrünnigen grundsätzlich nicht mit dem Tod zu bestrafen, verstiesse ja gegen das islamische Gesetz (shara’a) und kann daher niemals garantiert werden, auch nicht im Rahmen einer Menschenrechtserklärung.

* Martin Forstner. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit und des Religionswechsels als Problem der islamischen Staaten. in: Kanon. Kirche und Staat im christlichen Osten. Jahrbuch der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen. (Wien). Jg. X/1991. S. 138

Von Dr. Christine Schirrmacher