„Dem Schweizer Gesundheitswesen gehen die Hausärzte aus“, „Assistenzärztinnen arbeiten zu lange“, „170’000 Pflegestellen unbesetzt“. So und ähnlich lauten derzeit die Schlagzeilen in den Medien zur Situation der Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz. Nicht vom Personalmangel betroffen sind die Spezialärztinnen und Spezialärzte. Von ihnen hat es zu viel, mit Ausnahme der Psychiaterinnen und Psychiater. Wie eine soeben erschienene Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zeigt, sind psychische Erkrankungen (inkl. Sucht) die grössten Kostentreiber im Gesundheitswesen. Die Nachfrage übersteigt hier die personellen und finanziellen Ressourcen, insbesondere in der Jungendpsychiatrie. Psychische Erkrankungen haben oft mehrere Ursachen, da sie stark von sozialen und persönlichen Voraussetzungen mitbedingt sind.

Das gilt nicht nur für sie: Nur gerade 10 bis 20 Prozent beträgt zurzeit der Anteil des Gesundheitswesens an der Gesundheit der Menschen. Viele andere Faktoren sind ausschlaggebender. Gemäss Obsanbericht 2023 gehören dazu „ökonomische und soziale Sicherheit, Bildung, Arbeitsbedingungen oder die Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen“ sowie Lärm, Luftverschmutzung durch Verkehrsabgase, problematischer Alkoholkonsum u. a.

Der Personalmangel ist vor allem in jenen Fachbereichen des Gesundheitswesens besonders gross, die sich über eine rein somatische medizinische Behandlung hinaus direkt um die Patientinnen und Patienten, um Einsame, aber auch alte und gebrechliche Menschen, kümmern. Dabei sind die Grenzen zwischen Gesundheits- und Sozialwesen fliessend, wie z. B. in der Altenpflege. Es fehlt an Raum und Zeit und angemessener Entlöhnung für Sorgeleistungen für das Fachpersonal in den Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens und auch im Privaten. Damit einher gehen Einsamkeit und psychische Erkrankungen. Es findet derart gleichsam eine Medizinalisierung gesellschaftlicher Probleme statt.

Diese Entwicklungen sind Zeichen dafür, dass die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu wenig füreinander sorgen. Das öffentliche Gesundheitswesen stellt eine staatliche Fürsorgeleistung für kranke, verunfallte und sterbende Menschen dar. Doch aufgrund des Kostenwachstums beginnen die Ausgaben zunehmend die Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft zu übersteigen. Um sie zu senken, reduziert man die Zahl der Gesundheitsfachpersonen, die sich fürsorglich um die Patientinnen und Patienten kümmern, wodurch der Druck auf die noch verbleibenden Gesundheitsfachkräfte steigt, sodass viele aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise 40 Prozent der Pflegekräfte schon nach vier Jahren nach Abschluss der Berufsausbildung. Ein Teufelskreis: Je weniger Fürsorgeleistungen die Gesellschaft erbringt, umso mehr steigt der Sorgebedarf. Dieser wird mit medizinischen Leistungen gedeckt, was steigende Gesundheitskosten zur Folge hat.

Dass sich der Fürsorgebedarf einer Gesellschaft allein über die Sozialversicherungen abdecken lässt, ist eine Illusion. Ein nicht gedeckter Fürsorgebedarf führt dazu, dass es zu einer kaum mehr finanzierbaren Kostenspirale in den Sozialversicherungen kommt, auch im Gesundheitswesen. Statt stets neue Anreize für den Konsum von Leistungen im Gesundheitswesen zu schaffen, braucht es Anreize dafür, füreinander Sorge tragen zu können und zu wollen. Die Sorgebereitschaft in der Gesellschaft ist zu fördern, und die Arbeitsbedingungen der Fachpersonen im Gesundheitswesen sind zu verbessern, sodass diese in ihrem angestammten Beruf bleiben. Was auf den ersten Blick mit Mehrkosten verbunden ist, würde sich menschlich, aber auch finanziell lohnen. Denn nur in einer Gesellschaft, in der die Menschen füreinander Sorge tragen können und wollen, ist der Sorgebedarf finanzierbar.

Quelle: Stiftung Dialog Ethik