Von der Hafenstadt Mariupol in der Ostukraine, die über ein reiches christliches Erbe verfügt, sind Anfang April nur noch rauchende Trümmer übrig. Die russischen Angreifer haben zahlreiche Gebäude bombardiert, darunter das Stadttheater, in dem 1300 Zivilisten Zuflucht gesucht hatten: Zahlreiche Menschen sind in seinen Kellern begraben. Unter der Führung von Vladimir Putin wird eine Entwicklung eingeleitet, die sich als grosse Gefahr für das freie christliche Europa, seine Institutionen und Werte zeigt.

Von Heinz Gstrein

Die heutige Ruinenstadt Mariupol wurde zwar erst 1780 gegründet. Sie führt jedoch eine viel ältere christliche Tradition weiter. Die Halbinsel Krim und die Küsten des Asowschen Meeres bevölkerten im Altertum zahlreiche griechische Handelskolonien, die später ins Römerreich einbezogen wurden. Nach der Legende war Papst Clemens I. (um 50 bis etwa 100 n.Chr.) dorthin verbannt. In der Völkerwanderung liess sich ein Teil der Ostgoten ums Asowsche Meer nieder. Ihre Sprache starb erst im 18. Jahrhundert aus, als Mariupol entstand.

Schon 404 hatten sich die Schwarzmeergoten aus ihren zum Teil bis heute erhaltenen Burgen von Konstantinopel einen Bischof erbeten. Bei der Aufteilung des Byzantinischen Reichs nach dem IV. Kreuzzug fielen seine „gotischen“ Besitzungen an die Genuesen. Vom späten 15. bis Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte die früher byzantinischen Gebiete rund ums Asowsche Meer das „Chanat der Krim“ als osmanischer Vasallenstaat. Diese „Krim-Tataren“ waren religiös teils entgegenkommend, vor allem was die orthodoxen Griechen betraf.

Bedrängnis der Schwarzmeergriechen

Erst im Vorfeld der russischen Annexion des Chanats von 1783/84 begann sich die Lage der Schwarzmeergriechen zu verschlechtern. In der Tatarenhauptstadt Bachtschissarai (Gartenpalast) wurden sie zunehmend als orthodoxe Glaubensbrüder der Russen betrachtet und behandelt. Der Ökumenische Patriarch Theodosios II. entschloss sich daher, einen seiner besten Leute als Bischof von Gotthia zu entsenden: Den Athos-Mönch Ignatios Kozadinos. Im Krim-Chanat stärkte er die Glaubenstreue der orthodoxen Griechen, versuchte ihnen Mut und Zuversicht zu geben. Ihre Bedrängnis wurde aber desto grösser, je näher sich die Truppen von Zarin Katharina II. dem Machtbereich des Chans näherten. Bischof Ignatios entschloss sich daher, seine etwa 15’000 Gläubigen dessen Herrschaft zu entziehen und geschlossen an die damals weitgehend unbewohnte Nordküste des Asowschen Meeres „umzusiedeln“.

Am 23. April 1777 verkündete er diesen Plan, worauf ihn seine Gläubigen als „neuen Moses“ feierten, der sein Volk aus der Knechtschaft herausführt. Im Frühjahr 1780 wurde mit dem Bau der Stadt Mariupol angefangen. Schon 1783 begann ihre Industrialisierung mit einer Ziegelei, der bald zwei weitere folgten. Dazu kamen Giessereien und andere Hüttenwerke, die schon damals die Grundlage für die spätere Entwicklung des „Donbass“ zur Schmiede des Zarenreiches und der Sowjetunion legten.

Christliches Wiedererblühen nach 1990

Da die Griechen von Mariupol nicht den ganzen ihnen von Katherina der Grossen eingeräumten Ansiedlungs“rayon“ in Anspruch nahmen, kam in Petersburg ein anderer Plan zum Tragen, evangelische und auch katholische Bauern aus Preussen nach Mariupol zu holen. Ihre Niederlassungen wurden nach diesem „Preussenplan“ Planer Siedlungen genannt. Sie alle brachten reges evangelisches Glaubensleben zur griechisch-orthodoxen Präsenz. Doch im Zweiten Weltkrieg liess Stalin die Bewohner der Planer Siedlungen nach Sibirien und Kasachstan verschleppen. Erst nach der Wende von 1990 konnte in und um Mariupol unter seinen verbliebenen Völkerschaften wie Griechen, Armeniern und inzwischen auch Ukrainern wieder die Botschaft von Jesus verkündet werden, worin sich vor allem Pfingstchristen hervortaten. Dieses christliche Wiedererblühen von Mariupol war aber nicht von langer Dauer: Die prorussische Abspaltung des Donbass von der Ukraine war 2014 der Anfang vom Ende.

Heute fällt ganz Mariupol den russischen Bomben und Raketen zum Opfer. Den tapferen Einsatz und die Hilfsbereitschaft seiner Christen konnten aber die bisher sechs Wochen des Stahlgewitters nicht brechen. Ein Ehepaar aus Sachsen ware in Mariupol 20 Jahre in der Fürsorge für Drogenkranke im Einsatz. Nach Kriegsbeginn schlugen sie sich mit dem Auto zu der heiss umkämpften Stadt durch. Für so viele ihrer einstigen Schützlinge wie möglich bildeten sie einen Konvoi, der nach tagelanger Irrfahrt das sichere Polen und weiter Deutschland erreichte. Und einer deutschen Erweckungsbewegung gelang die Evakuierung aller 32 Kinder und der Betreuer aus ihrem Waisenhaus in Mariupol.

Dort sind inzwischen auch die wichtigsten christlichen Zeugnisse zerstört. So ist die bis zu diesem Krieg in Mariupol verehrte „Georgsikone von Bachtschissaraj“ verschollen. Ebenso die Reliquien des Bischofs Ignatios, von denen wenigstens ein Teil 2016 auf seine Heimatinsel Kythnos in Griechenland gerettet werden konnte. Zersplittert sein Denkmal vor dem Griechischen Kulturinstitut, aber auch jenes an der Strasse nach Berdjansk, über die jetzt Evakuierungskonvois für die letzten Überlebenden die Stadt zu erreichen versuchen. Aus dem 140-jährigen Eisenhüttenwerk Metallurg erhebt die dem Gründungsbischof von Mariupol geweihte Ignatios-Kirche die geborstenen Kuppeln wie ein Gebet um Frieden zum Himmel. Ihre Zierde aus Blattgold rieselt zur Erde. Die Apokalypse scheint angebrochen. Doch mitten in dem Inferno harren Rot-Kreuz-Helfer aus Genf im Keller ihrer zerschossenen Hilfsstelle aus. Sie wollen das Massengrab Mariupol erst verlassen, wenn das letzte Kind, die letzte Mutter, Alte und Kranke dieser Hölle entronnen sind.