Je ausgebauter das Soziale, desto geringer die Solidarität. Dieses scheinbare Paradox, nach dem unsere Gesellschaft funktioniert, hat der deutsche Soziologe Rainer Paris am 6. Dezember 2018 auf NZZ Online beschrieben.

Dass der gewohnte Standard von Sicherheit und Wohlstand Resultat von Errungenschaften sei, die immer wieder neu erarbeitet werden müssten, gerate in der heutigen Zeit gerne aus dem Blick, schreibt Paris. Doch werde nicht nur das Fundament der Vergangenheit oftmals verdrängt. Auch die Mechanik der Gegenwart begünstige solche Gleichgültigkeit.

„Es ist ein Grundzug der modernen Gesellschaft, dass der Einzelne mit fortschreitender Arbeitsteilung und Spezialisierung der Funktionssysteme (…) auf Leistungen der verschiedenen Institutionen und Organisationen angewiesen ist und sich darauf verlässt. Er hat einen Anspruch darauf, wobei es völlig normal und legitim ist, wenn er versucht, das Maximum für sich herauszuholen. Man nimmt, was man bekommen kann, und besteht auf dem Niveau des Erreichten.“

Als Konsequenz konstatiert Paris eine weitgehende Entpersönlichung der Beziehungen. „Wo andere uns lediglich in Berufsrollen, also als Funktionsträger von Organisationen, begegnen, ist der Sachbezug des Verhältnisses vorrangig.“ Und da wir in die Bedingungen der Herstellung und die konkreten Kosten der Leistungen keinen Einblick mehr hätten, sähen wir auch nicht ein, warum wir uns dafür besonders erkenntlich zeigen sollten.

Damit aber wird laut Paris eine grundlegende Bedingung des sozialen Zusammenhalts untergraben, nämlich die Basisnorm der Reziprozität (Gegenseitigkeit), die im Kern besage: „Du sollst demjenigen helfen, der dir geholfen hat, oder ihn zumindest nicht kränken. Dabei lassen sich zwei Grundformen der Hilfebeziehung unterscheiden: Solidarität und Altruismus (Uneigennützigkeit, Anm. der Redaktion).“

Das Prinzip der Solidarität beschreibt Paris als ein Verhältnis, „das auf Gegenseitigkeit beruht: Der eine hilft dem anderen, weil er darauf zählen kann, dass im umgekehrten Fall einer eigenen Notlage dieser ihm ebenfalls helfen würde. Solidarität ist somit von vornherein ein Versprechen gegenseitiger Hilfe, wobei die Gegenleistung jedoch nur im Bedarfsfall und zeitversetzt in der Zukunft erfolgt.“ Auch setze Solidarität, damit sie nicht zu einem blossen Moralappel verkomme, klare Mitgliedschaften und Gruppengrenzen voraus.

Demgegenüber sei die uneigennützige Nächstenliebe prinzipiell einseitig: „eine Gabe, die keine Verpflichtung zu einer künftigen vergleichbaren Gegengabe enthält“. Doch auch in diesem Fall gäbe es die Grunderwartung einer gewissen Dankbarkeit, mit der die Hilfeleistung beantwortet werde. Sie sei, wie Paris mit dem Soziologen Georg Simmel sagt, eine Art immaterielle Gegenleistung, mit der der Empfänger dem anderen signalisiere, dass er dessen Einsatz und Bemühungen würdige.

Und hier liegt gemäss Paris auch das Problem der im modernen Sozialstaat organisierten Hilfe und Unterstützung: „Der Sozialstaat ist neben einer grossen Errungenschaft gleichzeitig auch eine Maschine der Erzeugung von Undankbarkeit.“ Indem er die Vergabe von Leistungen verrechtliche und bürokratisiere, entpersönliche er sie zugleich. „Der andere wird dadurch zu einem anonymen ‚Empfänger‘ und ‚Klienten‘, dessen ‚Ansprüche‘ befriedigt werden.“ Dieser empfange vielerlei Leistungen, schulde aber niemandem etwas.