Kann Politik ohne Religion auskommen? Und welche Auswirkungen hat die Idee des multikulturellen Zusammenlebens auf Europa? Um diese und andere Fragen ging es bei der III. Internationalen Tagung des Instituts für Kirchenrecht und vergleichendes Religionsrecht an der Theologischen Fakultät in Lugano. Unter dem Titel „Politik ohne Religion?“ diskutierten vom 9. bis 11. September 2007 über 300 christliche, jüdische, muslimische und weltliche Vertreter über den Schutz der Freiheit und der Menschenrechte, über Demokratie und die Trennung von Staat und Religion.
Einig waren sich die meisten Anwesenden darin, dass es notwendig sei, dass Politik und Religion „um des Friedens willen“ zu trennen seien, dass es aber Überschneidungen zwischen beiden Bereichen gäbe. Ob allerdings eine gute Politik ohne religiöse Überzeugungen überhaupt möglich sei, diese Frage sei nicht einfach zu beantworten, bemerkte Prof. Dr. Silvio Ferrari von der Staatlichen Universität Mailand gleich zu Beginn der Tagung. Denn zum einen sein Religion ein fester Bestandteil in Europa und so auch in der Politik fest verwurzelt. Zum anderen sei das Religiöse in Europa wieder auf dem Vormarsch. Durch die grosse Migration, die inzwischen in Europa herrsche, gäbe es ausserdem nun nicht nur einen Pluralismus der Religionen, sondern auch innerhalb der Religionen. Zum Beispiel gehörten vielen Menschen formal einer Religionsgemeinschaft an, obwohl sie nicht gläubig seien und umgekehrt. Dr. Rino Fisichella, Rektor der Päpstlichen Lateranuniversität Rom, wies anschliessend darauf hin, dass die heutige Zeit von Zerfall und Gleichgültigkeit geprägt sei und Bürger wieder Verantwortung übernehmen müssen. Aber auch der Staat dürfe nicht in Neutralität verharren. Er müsse zwar Minderheiten schützen; dies dürfe sich aber nicht zum Nachteil der Mehrheit auswirken, die letztlich die Identität des Landes ausmacht. Seine These: „Wenn wir nicht lernen, im Christentum und der Demokratie zu leben, dann werden wir die Demokratie selbst aufs Spiel setzen.“

Bald 180 Mio. Muslime in Europa?

Welche Auswirkungen das Phänomen der Multikulturalität auf Europa hat und noch haben kann, schilderte Prof. Dr. Carlo Cardia von der Universität Roma Tre in seinem Vortrag eindrücklich. In zehn Jahren leben laut Cardia 180 Millionen Muslime in Europa, falls die Türkei in die EU eintritt. Dies könnte sich auf Gesetze bei uns auswirken und zu einem Rückschritt für Europa führen – wenn zum Beispiel aufgrund des Toleranzgedankens die Scharia, das islamische Gesetz, oder Fatwas, islamische Rechtsgutachten, eingeführt würden. Als Beispiel führte Cardia Kanada an, wo inzwischen bereits mittels Schiedsgerichte islamisches Recht gesprochen wird.

In der westlichen Welt hat die Multikulturalität zu einer Desorientierung innerhalb der westlichen Kultur geführt. Während man inzwischen für das Christentum den Grundsatz der Laizität (Trennung von Kirche und Staat) beansprucht, finden für den Islam und andere Religionen andere Prinzipien Anwendung. Das Problem liegt dabei laut Cardia vor allem bei Personen, die fasziniert sind von der Multikulturalität und alles verwerfen, was die eigenen Werte anbelangt: „Wir befinden uns in Bereichen, die den Untergang unserer Kultur bedeuten.“ Gerade das europäische Christentum musste sich in seiner Geschichte immer wieder kritisch hinterfragen lassen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Islam allerdings sei Kritik tabu: „Schweigen herrscht.“ Die von der Multikulturalität faszinierten Menschen seien blind, wenn es zum Beispiel um die Stellung der Frau im Islam gehe: „Da haben wir keine Rebellion, keine Ablehnung! Da gibt es keine Kritik mehr.“ Auch in der Diskussion um muslimische Themen gibt es eine übergrosse Rücksichtnahme. Bei Kritik oder Satiren dem Christentum gegenüber reagiere hingegen niemand darauf. Es entstehe ein doppeltes Spiel: „Kreuze sollen verschwinden, aber der Schleier ist ok.” Für Cardia bedeutet die Multikulturalität das Scheitern der Religion als Privatangelegenheit.

Konfliktscheue Diskussionsrunde

Prof. Cardia war von christlicher Seite allerdings der einzige Referent, der solch eine kritische Sicht dem Islam bzw. der Multikulturalität gegenüber äusserte. Von allen anderen Referenten gab es eher Sympathiebekundungen anderen Religionen gegenüber, wie zum Beispiel von Prof. Dr. Giuseppe Dalla Torre, Rektor der Universität LUMSA Rom, der sich klar äusserte, dass der Staat Hindernisse aus dem Weg räumen müsse, die Menschen daran hindern, ihre Religion auszuüben. Selbst eine als Podiumsdiskussion angesetzte Runde mit Vertretern aus Politik, katholischer, reformierter, jüdischer und muslimischer Glaubensrichtung verlief äusserst harmonisch, wie der frühere Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, Dr. Rolf Bloch, gegen Ende sogar selbst anmerkte.

Seltsam mutete ein Einwand von orthodoxer Seite an. Prof. Dr. Vsevolod Chaplin, Vize-Präsident der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen des Moskauer Patriarchates, warf ein, dass die Scharia durchaus gut zu bewerten sei: „In Tschetschenien gab es erst Frieden, als die Scharia eingeführt wurde.“ In seinem späteren Vortrag plädierte Chaplin dafür, dass man alle Religionen gleich behandeln solle, auch was die Vergabe der finanziellen Mittel anbelange. Dabei spiele es keine Rolle, ob das Geld dann z.B. für den Aufbau eines Kalifats (eine islamische Regierungsform, bei der weltliche und geistliche Führerschaft in der Person eines Kalifaten vereint sind) verwendet werden würde.

Multikulti bedeutet Gleichgültigkeit

Ein kritischer Beitrag zum Islam kam dann von der Seite, von der man es am wenigsten erwarten dürfte: von muslimischer Seite selbst. Bassam Tibi, Professor für Internationale Beziehungen an den Universitäten Göttingen und New York und moderater Muslim, betonte in seinem Vortrag, dass Kritik am Multikulturalismus „nicht rechts sei“: „Multikulti bedeutet Gleichgültigkeit den Werten gegenüber.“ Es gäbe ein grosses Problem mit dem Islam, der in sich sehr kompliziert sei. Die Anzahl der Muslime in Europa steige immer mehr, damit kämen auch die Probleme des Islam nach Europa. So entstünden Parallelgesellschaften. Die meisten Muslime riefen nach einem muslimischen Staat und beriefen sich dabei auf den Koran. Der heutige Islamismus ist laut Tibi eine neue Form von Totalitarismus: „Wenn Christen zum Islam wechseln, passiert nichts. Wenn ich zum Christentum wechsle, bin ich ein Apostat und darf nach dem islamischen Gesetz umgebracht werden.“ Tibi sagt klar: „Religionsfreiheit gibt es im Islam nicht!“

So deutliche Worte wie die von Bassam Tibi gab es leider nur selten auf der Tagung. Was jedoch klar wurde, ist, dass Religionsfreiheit und die anderen Menschenrechte grosse Errungenschaften der westlichen Welt sind und die Identität Europas wesentlich mitbestimmen. Alle Menschen, die in den Ländern Europas leben, müssen diese Identität und den damit verbunden Wertekanon anerkennen und somit auch die Trennung von Kirche und Staat. Das sollte auch die Politik in unserem Lande berücksichtigen.

Von Beatrice Gall