„Die Liebe hat unser Drehbuch geschrieben.“, sagt Regisseur Reinhard Steiner nach der Premiere seines Films „What is Love?“ in Wil. Am 26. Oktober 2023 läuft die Dokumentation in mehreren Schweizer Kinos an. „Menschen wie du und ich“ sollten darin die Möglichkeit haben, die Frage zu beantworten: „Was ist Liebe?“ Herausgekommen ist eine bedenkenswerte und ästhetisch schöne Collage von Begegnungen, Überlegungen und Lebensgeschichten.

Filmkritik von Ursula Baumgartner

Im Sommer 2022 machen sich Produzent und Regisseur Reinhard Steiner, Filmemacherin Selina Bonagura und Kamerafrau Martina Herzog 14 Tage lang zu Fuss auf den Weg. Sie wollen Antworten sammeln auf die Frage: „Was ist Liebe?“ Die Reiseroute legen sie vorher bewusst nicht fest, ebenso wenig wo und wie sie übernachten. All das soll sich unterwegs ergeben – eine geplante Planlosigkeit sozusagen.

Startpunkt ist Steiners Zuhause in Wil. Bepackt mit schweren Rucksäcken und dem Schild „What is Love?“ wandern Steiner, Bonagura und Herzog durch Städte und Dörfer und trampen an der Strasse. Per Anhalter durchkreuzen sie so die Schweiz und Deutschland, bevor die Reise in Österreich – genauer in Steiners Geburtsort – endet. Passanten, Ladenbesitzer, Strassenmusikanten, Seniorengruppen, Schulklassen auf einem Ausflug – keiner ist vor ihnen sicher. Sie alle werden mit der so einfachen und gleichzeitig so schwierigen Frage konfrontiert: „Was ist Liebe?“

Eine Frage, viele Antworten …

Viele Aspekte in den Antworten überraschen nicht. Einige setzen Liebe und Verliebtsein gleich, andere betonen den Zusammenhang von Liebe und Vertrauen. Auch dass Liebe viel mit Verzeihen zu tun hat, führen mehrere Befragte an. Dazu müsse jeder bereit sein, meint Pater Roman Brud und ergänzt: „Wenn ich bei mir anfange, ist die Welt um einen Menschen besser.“

Doch auch viel Unerwartetes wird vor der Kamera erzählt. Immer wieder gibt es berührende Zeugnisse von Menschen wie z.B. von Gerd, der offen von seiner derzeitigen Lebenskrise berichtet und sich darum schwertut, die Liebe zu definieren, oder von Gabriele, die kurz nacheinander zwei Schicksalsschläge trafen: zuerst starb ihr Mann, dann brannte ihr Haus ab. Trotzdem strahlt sie Ruhe und Dankbarkeit aus, wenn sie erzählt, wieviel Liebe und Hilfsbereitschaft sie von Freunden und Nachbarn in dieser Situation erfahren hat.

… und viele Emotionen

Genau wie im richtigen Leben, lässt die Liebe auch im Film niemanden kalt. Viele der Befragten lächeln, während sie antworten, vereinzelt kämpft einer mit Tränen. Viele sind von der Frage überrumpelt, manch einer auch überfordert. Und während einer mit einer Klarheit antwortet, die zeigt, dass er sich mit der Frage durchaus schon befasst hat, versinkt ein anderer in tiefes Nachdenken – und ein dritter hört gar nicht mehr auf zu antworten.

Neben der Liebe zwischen zwei Partnern oder zwischen Eltern und Kindern erwähnen die Befragten auch die Selbstliebe. „Wenn du dich nicht selbst liebst, also im guten Sinn achtest, dann kannst du andere nicht lieben.“, ist beispielsweise Brigitte überzeugt. Doch anderen ist auch und gerade die Selbstlosigkeit der Liebe wichtig. „Man gibt etwas und ist dadurch selber zufrieden.“, erklärt Reinhard. Einig sind sich alle: Ohne Liebe kann der Mensch nicht leben.

Platonisch oder erotisch?

Was ist Liebe? Diese Frage dürfte so alt sein wie die Menschheit selbst. Theologen, Philosophen, Psychologen, Dichter und Komponisten haben in den letzten Jahrhunderten, ja, Jahrtausenden ein reiches Erbe hinterlassen, das sich um diese Thematik dreht. So unterscheidet beispielsweise die griechische Philosophie mehrere Arten der Liebe. Die bekanntesten unter ihnen sind wohl das Dreigespann aus Philia, Eros und Agape. Philia bezeichnet die freundschaftliche Liebe, Eros die körperliche Anziehung und Agape die selbstlose Liebe, das Ideal der christlichen Nächstenliebe. Nach dem grossen mittelalterlichen Philosophen und Theologen Thomas von Aquin gehört es zum Wesenskern der Liebe, das Gute für den anderen zu wollen. Dies setzt Selbstlosigkeit voraus. Daher nennt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Kolosser die Liebe auch „das Band der Vollkommenheit“. Den Korinthern erklärt er: „Die Liebe ist langmütig, gütig, ereifert sich nicht, bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Bösen reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.“ Die Liebe ermöglicht also kurz gesagt das Unmögliche. So lässt der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe seinen Torquato Tasso sagen: „In einem Augenblick gewährt die Liebe, was Mühe kaum in langer Zeit erreicht.“

Ausserdem kennen die Griechen Storge, die die liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern umschreibt, und Mania. Der deutsche Begriff „Manie“ ist gut mit Besessenheit wiederzugeben. Den Gegenpol zu Eros bildet die platonische Liebe. Diese Form der Liebe zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie auf Körperlichkeiten verzichtet. Sie erreicht Intimität auf seelischer Ebene und lässt sich daher in gewisser Weise mit Seelenverwandtschaft vergleichen.

Auch biologisch oder neurologisch kann man sich der Liebe nähern. Doch man muss kein grosser Romantiker sein, um zu erkennen, dass Liebe mehr ist als eine biochemische Reaktion des Körpers. Sie ist im Gegenteil eher, wie es in Giuseppe Verdis Oper „La Traviata“ heisst, „der Herzschlag des Universums, geheimnisvoll, erhaben, Kreuz und Entzücken des Herzens zugleich“.

Zurück zum Film

Diese Überlegungen spielen in „What is Love?“ jedoch keine Rolle, da ausschliesslich die Antworten der Menschen im Mittelpunkt stehen sollen. Es hätte dem prinzipiell guten und innovativen Konzept allerdings nicht geschadet, die Antworten weiter zu analysieren und auszuwerten. Unterscheiden sich die Ansichten verschiedener Altersstufen? Oder gibt es vielleicht signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Hängt die Sichtweise auf die Liebe vom beruflichen Tätigkeitsfeld ab, vom Lebensstand, vom Bildungsstand oder einem anderen, eventuell ja völlig überraschenden Faktor?

Über all das nachzudenken, bleibt dem Zuschauer jedoch unbenommen. Und so ist „What is Love?” ein interessantes Experiment und ein sehr persönliches, berührendes Zeugnis von Regisseur Reinhard Steiner, bei dem man sich selbst unweigerlich die Frage stellt: Was bedeutet eigentlich für mich Liebe?

„What is Love?“ läuft am 26. Oktober 2023 in mehreren Schweizer Kinos an. Mehr zum Film unter: https://www.mooo.pictures/whatislove/